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Eine Fee im Schnee

Gleissendes Licht blendete Mialla durch die geschlossenen Augen hindurch, ein kalter Luftzug erfasste ihre durchscheinenden Flügel und zerrte an ihnen. Missmutig drehte sie sich auf die andere, dem Licht abgewandte Seite.

Natürlich, sie mochte den Frühling. Sie war eine Fee, für die es nichts Schöneres gab, als von Blüte zu Blüte zu schwirren, mit den Geistern der Pflanze zu sprechen, sie zu hegen und zu pflegen und Neuigkeiten von einem Wald zum nächsten, von der Wiese in den Sumpf zu tragen.

Wenn nur das Aufstehen nicht immer wäre. Das mochte sie, ganz im Gegensatz zum Frühling, überhaupt nicht.

Der Wind frischte auf. Ein leises Rauschen drang an ihre spitzen Ohren. Mialla maulte. Wieso? Wieso musste der Frühling auch immer so früh kommen? Sie fühlte sich doch alles andere als ausgeschlafen.

Schlaftrunken setzte sie sich auf und rieb sich die Augen. Dafür, dass es Frühling sein sollte, war es wirklich kalt wie in der Höhle eines Gnomen.

Als sie das strahlend blendende Weiss sah, das sich vor ihrem Nest ausbreitete, erstarrte sie. Das lag nicht an der Kälte, sondern wirklich am Anblick.

Schnee. Im Frühling. Sie schüttelte sich. Wenn sie etwas weniger mochte als das Aufstehen im Frühling, dann war es das Aufstehen im Frühling, wenn noch Schnee lag.

Vorsichtig, damit ihre Flügel bei dem eisigen Wind nicht einfroren, näherte sie sich dem Eingang ihres Nestes. Mit jedem Schritt wurde die Luft kälter, bis sie kaum mehr atmen konnte. Die aus ihrer Lunge strömende Luft verursachte weisse Kringel, die zu winzigen Kristallen gefroren und zu Boden glitten.

Es war nicht Frühling. Es war noch Winter.

Vor Entsetzen knickten ihre Beine ein, und sie plumpste mit dem winzigen Po auf den Rand ihres Bettchens, das sie sich für den Winter geschaffen hatte.

Ihre Art musste ruhen, um die Arbeit von den ersten Blüten bis zu den letzten erfüllen zu können.

Unter ihrem Nest waren Spuren zu sehen. Hässliche, dicke Trampelabdrücke führten zu dem Haufen Äste, in den sie sich verkrochen hatte. Die Herbststürme hatten Laub herangeweht, sodass es warm, trocken und kuschelig bleiben würde.

Wenigstens hatte sie das gedacht. Doch ein Gnom hatte sich an dem Asthaufen gütlich getan, um seine kalten Höhlen zu beheizen. Was für eine Frechheit! Den würde sie zur Rechenschaft ziehen.

Entschlossen bewegte Mialla ihre Flügel, stand auf und erhob sich in die Luft. Bei jedem Flügelschlag funkelten diese mit dem Schnee um die Wette, der im hellen Sonnenlicht glitzerte wie eine taufeuchte Wiese in den ersten Sonnenstrahlen.

Beinahe hätte sie sich in dem zauberhaften Anblick verloren und die Spurensuche nicht weiter verfolgt. Kopfschüttelnd rief sie sich zur Vernunft. Wenn sie ihr Nest wiederhaben und den Gnomen zur Rechenschaft ziehen wollte, sollte sie sich nicht von der Schönheit der Natur beeinträchtigen lassen.

Mialla wandte sich ab und beschleunigte ihre Flügelschläge. Mit jedem Baum, den sie hinter sich liess, schien die sie umgebende Dunkelheit zuzunehmen. Besorgt blickte sie zum Himmel hinauf. Dunkle, regenschwere Wolken hingen am Himmel, als wollten sie sie verspotten und dazu drängen, ihr nicht mehr intaktes Heim aufzusuchen, sodass sie den Winter nicht mehr stören möge. Sie hatte sich also nicht getäuscht.

Die Spuren im Schnee gingen im Zickzack hin und her, als wäre der Gnom auf der Flucht. Doch sein Geruch lag in der Luft, eine Mischung aus kaltem Stein, dreckiger Erde und seinen eigenen, beissenden Ausdünstungen. Mialla rümpfte die winzige Nase.

Hinter einem Felsvorsprung entdeckte sie den Wicht, der ihr Heim geschlissen hatte. Er trug die Tannenäste über seiner Schulter und wiegte bei jedem Schritt von der einen auf die andere Seite. Auch sein Atem kringelte sich vor dem Gesicht und gefror.

»Na warte«, murmelte sie entschlossen. »Wenn ich dich in die Finger bekomme!«

Sie schwirrte hinab, flog um den Gnomen herum und baute sich mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihm auf. »Gib mir meine Äste zurück!«, verlangte sie mit hoher Stimme, die an das Singen von kleinen Glocken erinnerte.

Der Gnom blinzelte, dämlich, wie er war, und lachte dann laut auf. »Hol sie dir doch«, foppte er sie.

Mialla presste die Lippen aufeinander und schnellte vor, um einen Zweig zu fassen, doch der Gnom schlug sie mit dem Ast.

Sie wirbelte durch die Luft, fing sich gerade noch rechtzeitig, bevor sie im kalten Schnee landete, und flatterte wieder nach oben.

»Du bist gemein!« Wieder stemmte sie die Hände in die Hüften, doch diesmal hielt sie sich ausserhalb der Reichweite des Gnomen.

Höhnisch lachte er auf. »Ja, genau, ich bin gemein. Weisst du eigentlich, wer die Äste den ganzen Sommer über dorthin getragen hat?« Seine Augenbrauen zogen sich so dicht zusammen, dass sie sich in der Mitte berührten und Schatten über seine Augen legten. Obwohl sie versuchte, das Funkeln darin zu erkennen, scheiterte sie.

»Das war mein Haus. Und wenn ich im Frühling nicht ausgeschlafen bin, dann vermissen mich die Blumen. Stell dir vor, wie traurig die Welt wäre, wenn es keine Blumen gäbe.« Es musste doch eine Möglichkeit geben, dass er sich erweichen liess. Auch Gnome waren nicht allesamt dumm. Wenigstens hoffte sie das.

Er starrte sie an.

Möglichst selbstsicher erwiderte sie den Blick.

Er legte den Kopf schief.

Mialla machte einen Schmollmund. Erst dann realisierte sie, dass die meisten Gnome in Höhlen hausten, in denen nie eine Blume erblühte, und erschrak. Um einem ganz weiten Hieb des Feindes zu entgehen, flatterte sie etwas weiter hinauf. Nur zur Sicherheit.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, brummte er. »Bei uns ist es dunkel und kalt, aber die Steine brauchen uns. Die Berge. Wir sind ihre Seele, wenn du die Seele der Blumen bist. Dabei mögen wir die Wärme auch. Und Blumen.«

Staunend lauschte Mialla seiner Ausführung. Für einen Gnomen war sie erstaunlich überlegt und lang. Normalerweise zeigten sie sich eher von einer brutalen, schweigsamen Seite.

»Komm mit«, brummte der Schuft. »Wenn du mir hilfst, bringe ich vielleicht dein Haus wieder in Ordnung.« Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, stapfte er davon.

»Hey!«, rief Mialla völlig ausser sich. Wie konnte er es nur wagen, sie einfach zu ignorieren? Doch weder ihre Stimme noch die dünnen Arme würden ihr helfen, ihn zum Denken zu bewegen. Also flog sie notgedrungen hinter ihm her, darauf achtend, immer ausserhalb der Reichweite des Astes zu sein.

Der Weg stieg so steil an, dass der Gnom schwer ins Atmen kam. Je weiter sie vordrangen, desto mehr Spuren waren im Schnee zu sehen, bis sie schliesslich einen festgetrampelten Platz erreichten. Die Abdrücke führten zu einer Höhle und davon weg und ähnelten denen des Gnoms. Das also war das Heim des Lumps. Wenn sie nur eine Möglichkeit sah, ihm dieses madig zu machen, würde sie die Gelegenheit sofort ergreifen. Darauf konnte er sich verlassen!

Mit einem letzten Blick zu ihr und einem Brummen trat er ein. Mialla folgte ihm widerwillig. Wollte er ernsthaft, dass sie sich in eine stinkende Gnomenhöhle begab, die ihr nur die Luft zum Atmen nahm? Ein Schurke war das, ein heimtückischer Halunke!

Ein Windstoss erfasste ihre Flügel und trieb die unerbittliche Kälte des Winters unter ihre Haut. Vergeblich flatterte sie gegen die Kraft an, die sie wegzuwehen drohte.

Eine dicke Hand umschloss ihren Arm und zog sie in das Dunkel der Höhle. Der Gnom musterte sie mit seinen dunklen Knopfaugen. »Kannst du jetzt wieder fliegen?« Ihm schien die Rettung keinen Spass gemacht haben.

Da erging es ihr ähnlich. »Natürlich«, antwortete sie mit in die Höhe gereckter Nase.

Er brummte und wandte sich ab, um tiefer in die Höhle zu watscheln. Als Mialla glaubte, nichts mehr sehen zu können, schimmerten die Wände in flackerndem Feuerlicht. Der Geruch nach verbranntem Holz stieg ihr in die Nase, dazu gesellten sich Kinderlachen und eine Frauenstimme, die irgendwelche lieb gemeinte Befehle durch den Raum warf.

Hinter dem Gnomen erreichte sie einen Raum. In der Mitte brannte das Feuer, das ihr mit seinem Licht geholfen hatte, den Weg zu finden. Rundherum standen kleine, flauschige Höcker. Ein weiterer Gnom schlug mit der baren Hand auf einen Haufen Baumrinde ein.

Zwischen den Höckern, dem Feuer und dem hinteren, dunkleren Teil des Höhlenraumes rannten zwei Knäuel herum, die Mialla als Gnomenkinder interpretierte.

»Hallo, Schnutzelbär.« Der Gnom, der sie hierhergeführt hatte, trat zu dem Gnomen mit der Rinde und stupste ihn mit der Nase an.

Der andere lachte leise, und die Stimme verriet, dass er eine sie war. »Mein liebstes Holzstämmchen«, murmelte sie.

Was für merkwürdige Namen die beiden füreinander hatten.

Sie fühlte sich etwas verloren. Allein in der Höhle einer Gnomenfamilie könnte sie genauso gut auch das Mittagessen sein. Immerhin erzählten sich die Feen, dass Gnome sich hin und wieder eine der Ihren einverleibten.

Grauslige Wesen waren das!

Der Gnom, der sie hierhergebracht hatte, warf den Ast ins Feuer, der ihr Nest geschützt hatte.

»Nein!«, rief sie. Wo sollte sie denn nun ruhen, bis die Blumen wiederkamen?

»Oh, du hast einen Gast mitgebracht«, sagte seine Frau erfreut und kam auf sie zu. »Wie schön, wieder einmal eine Fee begrüssen zu dürfen. Wir haben einiges für dich zu tun.« Sie rieb sich die Hände an ihrer Kleidung notdürftig sauber.

Mialla flatterte hinauf, um ausserhalb der Reichweite von dicken Gnomenhänden zu sein. »Ich muss auch gleich wieder los«, murmelte sie verunsichert und warf einen flüchtigen Blick zum Eingang.

»Ich sagte doch, dass ich dir helfe, wenn du mir hilfst«, brummte der Gnomenmann. »Komm mit.«

Aus Mangel an vernünftigen Alternativen flog sie hinter ihm her. Er führte sie weiter in die Höhle hinein, sprang einen Absatz hinab, den sie ihm nicht zugetraut hätte, und erreichte schliesslich einen weiteren Ausgang der Höhle. Dort deutete er auf ein kleines, grünes Büschel mit zwei einsamen Blüten.

»Gänseblümnchen!«, hauchte sie ergriffen und flatterte zu ihnen.

Sie sangen, allerdings war das Lied nicht annähernd so fröhlich und hell, wie das der anderen, die sie kannten. Als wären sie traurig.

Mialla landete zwischen den beiden, nahm sie in den Arm und spendete ihnen stummen Trost.

Ihr seid nicht mehr allein, flüsterte sie von ihrem Herzen zu denen der Blumen. Das Klingeln der Blüten folgte augenblicklich. Ich bin bei euch, und ihr habt einander.

Immer ruhiger wurden die Blüten, immer mehr erzählten sie aus ihrem einsamen Leben. Wie sie der Welt Hoffnung schenken wollten, und doch nur ignoriert wurden. Dass sie gesehen werden wollten, wie sie Bienen ein Summen entlocken wollten, einen Tupfen Gelb in das Grau und Weiss des Winters sandten – und das alles vergebens.

Euer Erscheinen ist wichtig, bekräftigte Mialla, die sich vor nicht allzu langer Zeit noch selbst in den Schlaf gewünscht hatte. Sie wusste, dass sie mitschuldig an der Misere war. Wenn sie und all die anderen Feen nicht schlafen würden, würden die wenigen Winterblumen die Trauer nicht spüren. Sie würden sich immer geliebt und gebraucht fühlen.

In diesem Moment fasste Mialla einen Entschluss: Sie würde schlafen, wenn die anderen Feen arbeiteten, und arbeiten, wenn sich niemand sonst um die Blüten des Winters kümmerten. Es war die Aufgabe der Feen, alle Blüten zu besuchen, ihren Geschichten zu lauschen und sie in die Welt hinauszutragen, um sie miteinander zu verbinden.

Mit Tränen in den Augen wandte sich Mialla zu dem Gnomen um. »Danke, dass du sie mir gezeigt hast.« Es kostete sie all ihre Kraft, ihm dabei in die Augen zu sehen. »Ich kann nicht glauben, dass ein Gnom die Not derer erkannt hat, die meinem Schutz unterstehen.«

Er liess sich Zeit mit einer Reaktion, brummte dann jedoch und wandte sich ab. »Komm mit.«

»Wenigstens die beiden Worte sprichst du also.« Mialla rollte mit den Augen und folgte ihm zurück in die Höhle, in der seine Frau auf ihn wartete.

Er deutete auf einen Sessel. »Ich kann noch weitere: Setz dich.«

»Jetzt sei nicht so ruppig«, verlangte sein Schnutzelbär und wandte sich mit einem freundlichen Lächeln an Mialla. »Nimm es ihm nicht übel. Er ist einfach so.«

Vorsichtig liess sie sich auf einen der Höcker sinken und tastete über die flauschige Oberfläche.

»Die habe ich selbst gemacht«, ereiferte sich Schnutzelbär mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. »Im Frühling sammle ich die Federn aus den Vogelnestern, die nicht mehr gebraucht werden, reinige sie und klebe sie auf ein Stück Holz.«

»Ja, ja«, brummte Holzstämmchen und setzte sich neben Mialla auf einen weiteren Höcker. »Und ich darf dann wieder Holz aus dem Wald holen.«

»Auch das dient der Ordnung«, meinte seine Frau mit in die Hüfte gestemmten Händen.

Mialla hatte schon davon gehört, dass Gnome die Ordnung in den Wäldern erhalten sollten, doch wirklich geglaubt hatte sie es nicht. Es waren Gerüchte gewesen, und nun erfuhr sie von federverwendenden Frauen und holzsammelnden Männern. Hinzu kamen die Blüten, die sie niemals an dieser Stelle erwartet hätte.

Sie hatte keine Ahnung von der Welt.

»Möchtest du auch etwas Baumrinde? Ich habe sie geschlagen, damit sie auch schön zart wird«, riss die Frau Mialla aus ihren Gedanken.

Diese schüttelte den zierlichen Kopf. »Nein, danke.« Sie hatte durch den Dank der Blüten genug Energie tanken können, damit sie nichts essen musste.

Schnutzelbär setzte sich auf die andere Seite, rief den Kindern und tischte das offenbar reichliche Mahl auf. »Kommt, esst. Ihr sollt braun und runzelig werden.«

»Mh, Baumrinde!«, riefen die beiden, als sie sich ans Feuer setzten und sich je ein grosses Stück Rinde gönnten.

»Weisst du«, meinte Schnutzelbär, »hier sind alle willkommen. Der Winter ist dunkel und kalt genug. Ich weiss, es ist nicht das, was du möchtest, aber Holzstämmchen wird dir heute noch dein Nest wieder herrichten. Nicht wahr?«

»Sie kann doch hierbleiben«, brummte er. »Weniger Arbeit für alle.«

Mialla sah sich um. Es war ein ungewohntes Angebot. Ausserdem waren es Gnome. Dafür war die Höhle beheizt, die Gesellschaft – bis auf Schnutzelbär – angenehm und sie könnte von hier aus gut die Winterblüher erreichen. »Ja. Ja, ich denke, das könnte eine gute Idee sein.«

 

Sie fühlte sich wie eine Blume, die eben von einer Fee besucht worden war und erfahren hatte, dass sie nicht mehr allein war.

 

Das ist mein Beitrag zum diesjährigen Autoren-Adventskalender. :-D Dort gibt es noch viele andere schöne Geschichten, Anekdoten und Gedichte auch aus früheren Jahren zu entdecken. <3

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Kommentare: 1
  • #1

    britta (Montag, 13 Dezember 2021 20:08)

    liebe andrea
    Eine wunderschöne Geschichte