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Pause im Schlaraffenland

Weitere Geschichten gibt es übrigens beim Autoren-Adventskalender! :-D


›Wenn ich doch nur ausbrechen könnte, um einen Tag lang verwöhnt zu werden!‹ Hannah seufzte bei dem Gedanken und wandte sich von der dunklen Fensterscheibe ab. Draussen fiel der Schnee seit Stunden in dicken Flocken auf die Erde und bedeckte Häuser, Bäume und Autos unter einer eiskalten Schicht.

Sie mochte den Schnee nicht. Sie mochte die Kälte nicht. Aber noch viel weniger als all das mochte sie Weihnachten.

»Komm, hilf mir«, forderte ihre Mutter sie mit einem nachsichtigen Lächeln auf. Sie wusste, dass es nicht Hannahs Lieblingszeit war, dennoch bat sie jedes Jahr um Hilfe beim Baum schmücken, Plätzchen backen und Geschenke besorgen.

Hannah unterdrückte ein weiteres Seufzen und machte sich daran, die tiefroten Glaskugeln an den Plastikbaum zu hängen. Wenn es doch nur ein echter wäre. Und echte Kerzen. Dann, ja dann wäre die Stimmung schon eine ganz andere - obwohl sie auch dann noch Geschenke kaufen und einpacken, den Braten vorbereiten, die Kartoffeln putzen, das Gemüse rüsten, die Dekoration fertigmachen, den Tisch decken und ein Lächeln aufsetzen müsste. Doch wenigstens würde es weihnachtlich riechen.

»Ich wünschte, nur einmal einen Weihnachtstag lang umsorgt zu werden«, murmelte sie so leise, dass ihre Mutter sie nicht hören konnte.

Als sie die nächste Kugel aus der Verpackung holte, dröhnte ein Schlürfen in ihren Ohren, als würde ein Riese auf ihrer Schulter zu heisse Suppe essen. Ihre Sicht verklärte sich, alles wurde hell, gleissend, und sie riss den Arm vor die Augen, ehe Dunkelheit sie überkam.

 

Hannahs Hals kratzte und sie räusperte sich. Nur nach und nach drang die Umgebung zu ihr durch. Weiches Gras kitzelte ihre Hände. Sonnenstrahlen spielten auf ihrem Gesicht. Frühlingsluft und der Duft nach Blumen wärmten ihre Lunge und Herz.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Endlich, Frühling! Der doofe Winter war Vergangenheit. Sie öffnete die Augen und richtete sich auf. Eine saftig grüne Hügellandschaft breitete sich rund um sie aus, Bäume und Büsche spendeten Schatten. Unter einigen stand sogar eine hübsche Holzbank, um sich auszuruhen. Genau nach Hannahs Geschmack!

Sie erhob sich und ging auf eine Baumgruppe zu. Ohren, Kopf und Vorderpfoten eines Kaninchens tauchten aus dem Gras auf. Es betrachtete sie mit dunklen, wissenden Augen und wartete einige Augenblicke, entschied sich dann wohl, dass Hannah ihm doch zu gross war, und hoppelte davon.

Hannah blickte ihm bedauernd hinterher. Es wäre schön gewesen, jemanden zum Reden zu haben – auch wenn es nur ein Kaninchen war, dessen Antworten höchstwahrscheinlich eher knapp ausgefallen wären. Dennoch wirkte es fast ein wenig wie Ostern. Auch das war so ein Fest, bei dem man sich mit Familie und Freunden den Bauch vollschlug, obwohl man es das ganze Jahr über machen könnte. Genau wie Geschenke verteilen.

Weihnachten war das schlimmste. Immer …

Hannah erstarrte zeitgleich mit ihren Gedanken. Weihnachten! Sie hatte mit ihrer Mutter den Baum dekoriert und nun sass sie hier auf einer Bank und trauerte einem Karnickel hinterher. Wie war sie hierhergekommen? Und wo ging es nach Hause zurück? Litt sie an einer Gedächtnislücke, hatte jemand sie auf den Kopf gehauen und einfach liegen gelassen?

Mit hastigen Bewegungen tastete sie ihren Kopf ab, fand jedoch keine Beule. Einerseits beruhigend, andererseits fröstelte es sie. Sie rieb sich über die Oberarme, um wenigstens ein bisschen Wärme zurückzubringen. Ihre Hände fuhren über den dicken Pullover, den sie bei ihren Eltern Zuhause getragen hatte.

Erstarrt blinzelte sie, den Mund leicht geöffnet. Der Pullover! Sie trug ihn noch immer! Es war, als hätte etwas oder jemand sie aus dem Wohnzimmer an einen frühlingshaften Ort katapultiert.

Eine Katastrophe!

 

Sie musste zurück, irgendwie einen Heimweg finden. Wenn sie doch nur eine Karte und einen Kompass hätte, um sich zurechtzufinden. Dann könnte sie …

Ein Pfeifen unterbrach ihre Gedanken, im nächsten Augenblick schoss etwas neben ihr in den Boden und eine zusammengefaltete Karte flatterte neben ihr auf die Bank. Mit weiten Augen starrte sie das farbige Papier an, völlig überfordert, ob sie dem Frieden trauen oder lieber vor dem Hexenwerk davonrennen sollte. Noch traute sie sich nicht, die Karte anzufassen, sondern streckte den Hals nach dem anderen Gegenstand aus, der auf der weichen Erde aufgeschlagen hatte.

Bedeckt von ein paar Erdkrumen, lag ein Kompass zwischen ein paar Windbuschröschen.

»Du heilige Scheisse«, entfuhr es Hannah.

Plötzlich erschöpft, lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. »Ich kann mich wohl nicht einfach so wieder nach Hause wünschen, oder?« Denn das war es, was sie am meisten wollte: Nach Hause zu gehen, den Weihnachtsbaum zu schmücken und das Essen vorzubereiten. Es gehörte dazu. Sie liebte ihre Familie und ihre Freunde und wollte Zeit mit ihnen verbringen. Ein Fest feiern. Nur das ganze Drumherum … war ihr jeweils zu viel.

»Kann es kein Fest geben, das mir entspricht?« Sie seufzte und schlug ergeben die Augen auf, griff nach der Karte und faltete sie auseinander.

Schlaraffenland.

Was für ein Blödsinn war das? Schlaraffenland!

Sie lachte hart auf. »Eine gebratene Weihnachtsgans, bitte!«, rief sie, wenig überzeugt, dass sie tatsächlich einen Happen zu Essen bekam.

Ein Rauschen ertönte. Wie eine Bombe landete eine übervolle Platte mit Weihnachtsgans, Kartoffeln, Möhren und ganz vielen anderen Leckereien neben ihr auf der Bank, dennoch spritzte nicht einmal ein kleiner Tropfen Bratensauce über den Rand.

Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, obwohl ihr Kopf ihr einzuhämmern versuchte, dass ein unbekanntes Flugobjekt, getarnt als leckeres Weihnachtsessen, nicht schmecken konnte. Bestimmt bescherte es ihr Bauchschmerzen und Übelkeit.

Na gut, die Bauchschmerzen hatte sie schon. Das hier war nicht normal. Dennoch zupfte sie sich etwas Fleisch ab und steckte es sich in den Mund. Köstlich! Nie hätte sie geglaubt, das etwas Dahergeflogenes so lecker sein konnte. Sie nahm gleich noch einen Bissen, und noch einen, bis sie das schlechte Gewissen einholte. Sie musste nach Hause zurück und ihrer Mutter helfen. Kekse backen.

Weihnachten feiern.

 

Ein Seufzen schlich sich aus ihrer Kehle. Sie gönnte sich einen Moment, schloss die Augen und versuchte, sich auf ihr Innerstes zu konzentrieren. Sie wollte nicht Weihnachten feiern, sich nicht diesem ganzen Trubel hingeben – doch sie wollte Zeit mit ihrer Familie und ihren Freunden verbringen. Auch wenn die Umgebung sie verzauberte, wollte sie doch lieber wieder nach Hause zurück.

Hannah faltete die Karte abermals auseinander. Noch immer schienen die Buchstaben von Schlaraffenland zu leuchten wie die Handy-Taschenlampe in der Schwärze eines Kellers. Das Schlaraffenland gab es nicht. Alles musste man sich selbst erarbeiten, die Grenzen setzen oder darüber hinauswachsen. Doch ein Land, in dem man einfach sitzen konnte und nichts anderes tun musste, ausser sich etwas zu wünschen … Da musste man doch faul und träge werden. Konnte man dann die Schönheit der Natur noch geniessen, die Ruhe? Würde sie noch spazieren gehen, um Neues zu sehen und erleben?

Erst einmal musste sie sich orientieren. Entschlossen öffnete sie den Kompass, dessen Nadel wild im Kreis herumschwang. Er brauchte wohl noch ein wenig, um sich zurechtzufinden. Sie wandte sich der Karte zu, die eine grüne Landschaft mit gemalten Bäumen zeigte. Umrahmt wurde sie mit einem gemalten, goldenen Rahmen, verschnörkelt und geschwungen, sodass Hannah leise auflachte. Vielleicht hatte sie sich als Kind genau so eine Karte gewünscht, doch heute würde sie die nicht einmal mehr in der verstaubten Kiste im Estrich ihrer Eltern verstecken.

Noch immer drehte sich die Nadel des Kompasses im Kreis. Mit gerunzelter Stirn betrachtete Hannah erst ihn, dann die Karte und wieder den Kompass. Das war doch unmöglich. Ein Ort, an dem einem das Essen praktisch in den Mund flog, und ein Kompass, der Norden nicht anzeigte.

Es sei denn, es gab kein Norden.

Vielleicht brauchte sie einen Kompass, der zu einem Ausgang zeigte, doch selbst dann wäre noch lange nicht sicher, dass der dann auch zu ihrer Familie zurückführen würde. Mit einem erschöpften Seufzen lehnte Hannah sich zurück und betrachtete die Blätter, die im sanften Wind spielten, als hätten sie keine Sorgen.

 

»Wahrscheinlich haben sie auch keine Sorgen«, brummte sie und richtete sich wieder auf.

»Wer hat keine Sorgen?«, fiepte es von unten.

Erschrocken sprang sie zur Seite, verfehlte die Bank und plumpste auf den feuchten Boden. Augenblicklich drang die Kälte des Morgens durch ihre Hose und liess sie frösteln.

Auf der anderen Seite der Bank, hämisch grinsend, streckte sich das Kaninchen von vorhin aus dem Gras und betrachtete sie neugierig. Vielleicht bildete sich Hannah das Schmunzeln auch nur ein, doch das Tier hatte gesprochen – wenigstens hoffte sie, dass es das Kaninchen war.

»Warst du das?«, fragte sie skeptisch.

Das Kaninchen schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nicht heruntergefallen. Das warst du.« Es wackelte mit der Nase, als würde es innerlich platzen vor Lachen.

Hannah erhob sich und putzte sich die braunen Krümel vom Hosenboden. »Ich meinte das Sprechen, aber die Frage hat sich inzwischen auch geklärt«, murmelte sie sarkastisch.

»Wieso sollte ich nicht sprechen? Du hast es dir doch vorhin gewünscht.« Es sprach, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass ein Kaninchen mit einem Menschen plauderte.

»Ich habe mir auch gewünscht, von hier wegzukommen.«

Wieder grinste das Kaninchen so breit, dass Hannah ungläubig den Kopf schüttelte. So konnte nicht einmal ein Schimpanse grinsen. »Genau genommen hast du dir genau das hier gewünscht.«

Hannah zog eine Braue hoch. »Vielleicht wünsche ich mir bald einen Pfeilbogen mit gefülltem Köcher und das Talent, ein Kaninchen aus riesiger Entfernung zu treffen.«

Beinahe schwang Anerkennung im Nicken des Tieres mit, als es sie mit seinen dunklen Augen musterte. »Ich sehe, du lernst dazu. Deine Wünsche werden konkreter – und zielorientierter.«

Sie seufzte und fuhr sich durch die Haare. »Na ja, ich habe mir ein Kaninchen als Gesprächspartner gewünscht, allzu zielorientiert denke ich wohl noch nicht.«

Das Tier hoppelte auf sie zu, wartete einen Moment, ehe es mit einem Satz auf die Bank sprang und gemütlich Platz nahm. »Du kommst aber immer näher.«

Hannah stöhnte. »Könntest du mir die Lösung verraten?«

»Zu welchem Problem?«

»Du nervst.«

Das Kaninchen kicherte. »Dass du dir eine Karte gewünscht hast, war schon einmal sehr klug von dir.«

Eine Karte nützte nichts, wenn sie sich nicht orientieren konnte. Der Kompass drehte durch – wortwörtlich. So kam sie keinen Schritt weiter. Doofes Schlaraffenland.

 

»So ganz ohne etwas dafür zu tun, gehen Wünsche eben nicht in Erfüllung«, sinnierte das Karnickel, streckte seine Hinterläufe aus und legte die Vorderpfoten auf seinen Bauch, als hätte es sich den Wanst vollgeschlagen und würde sich nun sonnen. »Und hier ist es vergleichsweise leicht, etwas für seine Wünsche zu tun.«

Hannah drehte sich suchend um die eigene Achse. Vielleicht hatte sie noch einen Hinweis übersehen, einen Weg, der sie zurück nach Hause führte, als sie in ihrer Bewegung innehielt. Mit ihrem Blick fixierte sie das Kaninchen. »Du meinst … ich kann mich einfach nach Hause wünschen?«

Das Tier – ein Tier! – zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, etwas dafür tun musst du schon.« Als hätte es die Weisheit mit Löffeln gefressen.

Hannah schnaubte. »So ist das im Leben, wie? Immer muss man etwas für die eigenen Wünsche tun. Wieso kann nicht einmal etwas so laufen, wie ich mir das vorstelle?«

»Tust du denn etwas dafür?« Das Kaninchen machte eine kurze Pause. »Es muss nicht immer eine Gegenleistung sein. Manchmal heisst etwas tun auch einfach, dass man nicht abwartet, bis die eigenen Wünsche in Erfüllung gehen, sondern die Voraussetzungen dafür schafft, dass sie es eben können.« Wieder zuckte es mit den Schultern und schloss die Augen.

Hannah ballte die Hände zu Fäusten. »Ich wünsche mich nach Hause zurück.«

Wieder erklang dieses Schlürfen, das so zu nichts passte, das sie kannte. Die frühlingshafte Welt um sie herum verschwand hinter einem immer dichter werdenden Vorhang, die Ohren füllten sich mit Watte, ehe sie das Bewusstsein verlor.

 

Es roch nach Zuhause. Hannah sog die Luft tief in ihre Lunge, liess sie herumwirbeln und genoss das Gefühl, angekommen zu sein. Mit einem Lächeln drehte sie sich auf die Seite und drückte die rechte Gesichtshälfte in das Kissen – in ihr Kissen, in das sie in ihrer Jugend den ersten Liebeskummer geweint hatte. Sie hatte es tatsächlich geschafft, aus dem Schlaraffenland zu fliehen. Seltsamerweise fühlte sie sich dennoch erholt, als hätte sie einen Kurzurlaub gebucht.

Mit neuer Energie setzte sie sich auf. In ihrem Zimmer war es dunkel, nur vom Spalt unter der Tür drang ein wenig Licht herein. Gemurmelte Stimmen aus dem unteren Stockwerk. War ihr Bruder mit seiner Familie schon da? Doch das Geschrei der Kinder fehlte. Vielleicht spielten sie draussen, solange sie noch nicht ruhig am Tisch sitzen mussten, damit die Erwachsenen über ihre Erlebnisse sprechen konnten.

Hannah stand auf, ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. Sie wollte zu ihrer Familie und Weihnachten mit ihnen feiern. Dennoch hielt sie in der Bewegung inne und erinnerte sich an das freche Kaninchen im frühlingshaften Schlaraffenland. Tu etwas für deine Wünsche. Noch immer klingelte das Fiepen in ihren Ohren, als stünde das Tier neben ihr und würde sie mit seinen Weisheiten quälen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Vielleicht hatte es recht gehabt.

Sie folgte dem verlockenden Bratenduft in die Küche. Ihr Bruder half ihrer Mutter beim Kochen und sie diskutierten angeregt miteinander. Mit einem Lächeln trat sie hinter ihre Mutter, umarmte sie und drückte ihr einen warmen Kuss auf den Kopf. »Danke«, flüsterte sie in ihr Ohr.

Für einen Moment blieb ihre Mutter wie angewurzelt stehen, ehe sie sich umdrehte. »Geht es dir besser, Kindchen?« Sie fuhr ihr mit der Hand über die Wange.

»Ja, viel besser.« Sie fühlte sich wie neugeboren, ausgeruht und bereit für neue Herausforderungen. »Wie ich sehe, geht Bernd dir tatkräftig zur Hand. Wie wäre es, wenn wir ihn für die Vorbereitungen an Ostern auch bestellen?« Sie zwinkerte ihrem Bruder zu. Auch er konnte früher kommen und mithelfen, damit sie das Fest auch eher geniessen konnte.

Er rollte mit den Augen, seufzte theatralisch und schmunzelte dann so freudig, dass sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt fühlte. »Natürlich. Aber das nächste Mal überlasst ihr mir die Küche. Ich will mal ein richtiges Steak!«

Hannah lachte befreit auf. »Ich mag Mutters Braten.«

»Dann wirst du mein Steak lieben.«

Tu etwas für deine Wünsche. Wie recht das Kaninchen doch hatte.

 

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