Schmiedefeuer (Leseprobe)

Prolog

 

Es gibt keine Magie.

Vielleicht gibt es sie im Kleinen, im Zwischenmenschli-chen, wenn ein Mann eine Frau zum ersten Mal sieht und von ihr verzaubert ist. Oder der Zauber des Lebens, wenn ein Kind geboren wird, ein Küken durch die Schale bricht. Wenn sich aus einem Samen ein winzig kleiner Keimling der Sonne entgegenstreckt, danach lechzend, zu einem grossen Baum heranzuwachsen.

Das aber ist keine echte Magie. Es ist der Lauf des Le-bens, die Natur, von den Göttern erschaffen, die uns mit unzähligen Wundern berührt. Sie nährt uns, lässt uns gedeihen und staunen, bis sie sich uns nimmt, wenn der Tag gekommen ist. Wunderschön und brutal zugleich. Doch dazwischen stecken diese Kleinigkeiten, die wir gern übersehen, die das Leben aber erst lebenswert machen.

Magie ist mehr. Wenn ein Mann mit Feuerbällen nach seinem Gegner wirft, ist das Magie. Oder wenn aus den Zinnen der Festungen der Irin ein Drache emporsteigt und die feindliche Armee mit einem einzigen, metallisch klingenden Schrei in alle Winde zerstreut. Wenn eine Frau einen Schritt tut und dabei die halbe Welt umrundet. Wenn sich jemand unsichtbar machen kann.

Ich kann mit Feuerbällen auf mein Gegenüber zielen, ich kann einen Drachen erscheinen lassen und eine ganze Armee in Angst und Schrecken versetzen. Ich kann einen Schritt tun und auf der anderen Seite des Sees wieder erscheinen.

Aber das ist keine Magie. Sie glauben es nur.

Es ist alles nur Illusion.

Täuschung 

ARIN

 

Das Herz hämmerte hart gegen seine Rippen und schnitt ihm beinahe den Atem ab, während eine Schweissperle nach der anderen von seiner Stirn tropfte. Bei jedem Atemzug ertönte ein ohrenbetäubendes Keuchen. Erschöpft lehnte er sich an den Baum hinter ihm, versteckte sich im Schatten des Laubes.

Zu laut, viel zu laut. Er musste leiser werden. Die Krieger der Larhun verziehen keinen einzigen Fehler. Nie. Er kannte ein besseres Versteck, eines, das auch die Krieger nicht entdecken konnten. Doch er musste wissen, weshalb sie ihm folgten. Er musste sie belauschen können, aus nächster Nähe. Das konnte er nicht, wenn er sich in die Schatten zwischen den Welten begab.

Er schluckte und schloss die Augen. Seine Finger krallten sich in die raue Rinde, bis sie bluteten, doch der Schmerz drang nur gedämpft zu ihm durch. Er versuchte, seinen Puls zu beruhigen, indem er sich auf seine Atmung konzentrierte, auf die kühle Stütze, die ihm der Baum bot. Auch wenn es lächerlich war, der Laubbaum schenkte ihm Gelassenheit, sodass sich seine Gedanken klärten und sich vom zähen Nebel befreiten.

Er rief die Schatten, betrat sie jedoch nicht ganz. Nur einen Fuss setzte er in die kühle Dunkelheit, gerade so weit, wie es für sein Vorhaben nötig war.

Als er mit einem tiefen Atemzug in sich ging, dachte er an den Duft des Waldrandes, gemischt mit dem der weiten, hellen Weizenfelder, die sich über die umliegenden Hügel erstreckten. Er sog ihn ein, liess ihn in der Lunge herumwirbeln, bevor er ihn wieder ausstiess.

Er stellte sich den Baum an seinem Rücken vor, sah, wie dieser einsam am Wegesrand stand und der Wind mit zarten Fingern durch die Blätter fuhr, mit ihnen spielte. Er entlockte ihnen ein unbeschwertes Lied, das den anbrechenden Tag willkommen hiess. Das Licht des blauen Mondes zeichnete einen sanften Schattentanz in das saftig grüne Gras. Im Takt der Windmelodie wogte es um seine Füsse herum, durch sie hindurch.

Die Schatten um ihn woben sich dichter. Von seiner rechten Seite ausgehend, breiteten sie sich um ihn aus, bildeten einen Käfig, der ihn teilweise verschluckte. Aber er war noch da, konnte noch sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken, was passierte.

Den Rest seiner Anwesenheit löschte er in seiner Vorstellung komplett aus – seine Gestalt, den Gestank, den Atem, die Geräusche und die Wärme. Er erschuf eine Illusion um sich herum, machte die Welt glauben, dass auf diesem Hügel am Wegesrand nur ein mächtiger Baum stand. So, als wäre dort nichts, oder ein bisschen mehr als nichts, sodass es eben nicht auffiel, dass dort nichts war.

Er liess sich verschwinden, ging ganz in seiner Illusion auf. Sein Atem beruhigte sich weiter, der Schweiss erkaltete auf seinem Gesicht. Vielleicht, wenn sie ihm noch einige Augenblicke gewährten, funktionierte es und die Larhun würden ihn übersehen.

Nein, nicht übersehen, sondern nicht sehen.

Im Gegensatz zu den Menschen, Kvor oder Irin liess sich das Schattenvolk oftmals nicht durch seine Tricksereien täuschen. Ihm war es, als verfügten sie über einen sechsten Sinn, der den anderen Völkern unbemerkt abhandengekommen war. Vielleicht hatte ihn sein Meister deshalb vor den Reichen in den Nebeln gewarnt, in denen sie hausten.

Doch diesmal musste es einfach klappen, er hatte keine Wahl. Er musste wissen, wie sie ihn aufgespürt hatten und ihm nun so hartnäckig folgen konnten.

Natürlich waren sie hinter seiner Halskette mit dem Schlüssel her, dessen Gewicht ihn mit Nachdruck daran erinnerte, welch wichtige Aufgabe er übernommen hatte. Als Bote der Irin war er auf dem Weg ins Königreich Kvora. Tief unten in seiner Tasche befand sich ein Schriftstück, dessen Inhalt er nicht einmal erahnen konnte. Wenn seine Königin rief, hatte er ohne Fragen zu gehorchen.

So hatte Königin Thea ihn auch dieses Mal zu sich bestellt, um ihm eine Nachricht mit auf den Weg zu geben. Er sollte sich auf direktem Weg in die Hauptstadt von Kvora machen. Zunächst hatte also alles nach einem gewöhnlichen Botengang ausgesehen.

Erst als er bald nach seiner Abreise völlig überraschend die Anwesenheit einiger Soldaten der Larhun bemerkt hatte, wurde es zu einem nicht mehr ganz so gewöhnlichen Auftrag. Absichtlich hatte er Umwege auf sich genommen, um von sich abzulenken, doch sie folgten ihm auf Schritt und Tritt. Je öfter er die magischen Tore benutzte, desto näher kamen sie ihm. Wo immer er sich auch aufhielt, er spürte ihren kalten Atem im Nacken, die beklemmende Nähe ihres Schlüssels.

Vielleicht jagten sie gar seinen Geruch … oder besser Gestank. Er lachte in sich hinein. Möglich wäre es, sein letztes Bad hatte er vor vier Tagen im Palast der Königin genossen. Seither war er unterwegs. Aus einem gewöhnlichen Botengang war eine Flucht geworden.

Ob sie hinter ihm, dem Schlüssel oder der Nachricht her waren, vermochte er nicht zu sagen. Aber dass sie keine für ihn erfreulichen Ziele verfolgten, war nicht zu übersehen. Die Larhun galten als Abschaum, als das Gesindel Mra’Theels, des Kontinents der Entdecker. Nur wenige wagten sich in die Reiche der Nebel, nicht einmal ein kleiner Teil kehrte zurück.

Wenn er an Dämonen glauben würde, so würde er die Larhun als solche bezeichnen. Sie stanken, sie waren ungepflegt, gross, finster und vor allem Furcht einflössend. Wenn er den Erzählungen Glauben schenken konnte, dann war eine ihrer Hände grösser als sein Brustkorb, die Augen so finster wie die dunkelste Nacht, ohne irgendeinen Mond am Himmel.

Zuerst spürte er den kalten Wind in seinem Nacken, wie immer, wenn sich jemand mit einem Schlüssel näherte. Die Kälte der magischen Tore haftete ihnen an. Sie grummelten in der kehligen Stimmlage der Larhun, dann setzten sie sich in Bewegung. Erstaunlich, wie leise grosse Wesen wie sie sein konnten.

Erleichtert atmete er aus. Die Schritte und das Gemurmel entfernten sich, aber er konnte sie noch immer hören. Noch witzelten sie über die Dummheit eines Boten, sich durch das Versteckspiel in Sicherheit bringen zu wollen.

Von wegen dumm. Er führte sie gerade mit seiner Illusion in die Irre.

Plötzlich packte ihn jemand hart an der Schulter und riss ihn herum. Torkelnd fiel er auf den Hosenboden. Vor ihm baute sich ein breiter Oberkörper scheinbar bis in den Himmel auf, wo er in einen wuchtigen Schädel mit verzerrter Fratze überging. In den Augen stand so etwas wie Genugtuung, auch wenn sie zu schmalen Schlitzen verengt waren, und genauso selbstgefällig war das Grinsen auf den schmalen Lippen. Der Atem des Larhun fuhr ihm über das Gesicht.

Sein Puls schoss in die Höhe, Aufregung flutete seinen Körper. Sie verlieh ihm neue Kraft. Wie in vielen Kämpfen und Übungen antrainiert, schnellte seine Hand zum Schwertgriff am Gürtel, umfasste das Heft, doch bevor er die Waffe ziehen konnte, riss ein Schlag seinen Kopf herum. Einen Augenblick lang konnte er nicht atmen und rang nach Luft. Auf seiner Zunge breitete sich der metallische Geschmack nach Blut aus, sein rechtes Nasenloch schwoll zu.

Mit einem einzigen, erlösenden Aufschrei befreite sich seine Lunge von der Ohnmacht des Schlages. Er sammelte die in seinem Körper verbliebene Kraft und zog endlich das Schwert aus der Scheide. Links von ihm ertönte hämisches Gelächter. Eine schwere Hand trennte ihn von der Waffe.

Der dreckige Larhun, ohne dessen Griff der Bote vermutlich schon blutend am Boden gelegen hätte, stimmte in das Lachen mit ein. »Du hast verloren, Bursche.« Mit einem breiten Grinsen riss der Krieger an seiner Kette mit dem Schlüssel. Die filigranen Glieder sprangen auseinander.

Mit einem Stöhnen wand er sich unter dem harten Griff, als sich die Finger noch weiter in sein Fleisch gruben. »Gib sie mir zurück«, verlangte er schwach wie ein sterbender Vogel.

Der Schlag auf seinen Kopf wurde von einem hässlichen Knirschen begleitet, dann umfing ihn reine, pure Schwärze.

Schlüssel 

TINDRA

 

Verdammt, sie war schon wieder spät dran. Der oberste Bogen der Sonnenscheibe würde bald über den Horizont blicken und das Land in warmes Licht tauchen. Wenn sie nicht wollte, dass Meister Juang sie wieder rügte, musste sie sich sputen.

Bevor die warmen Herbstwinde den goldgelben Ähren ein Rauschen entlockten, bevor das Knistern der Erde ertönte, das sich in den rostroten Felsen fortsetzte, wollte sie einen grossen Teil ihrer Arbeit geschafft haben. Obwohl schon Herbst war und es mit grossen Schritten auf den Winter zuging, liessen sich die Temperaturen Zeit, um sich anzupassen.

Tindra mochte den Sommer nicht, genauso wenig wie den Herbst oder den Winter. Nur mit dem Frühling konnte sie sich in diesem verschlafenen Nest anfreunden, wenn sich die ersten Blumen der Sonne entgegenreckten und die Bäche mit ihrem gurgelnden Lied die Luft erfüllten.

Gerade noch bevor die Priesterinnen im Tempel unten im Dorf den anbrechenden Tag besangen, schlüpfte sie unter dem Torbogen zum Anwesen ihres Lehrmeisters hindurch. Sie überquerte den viereckigen Hof und versuchte währenddessen, ihren Atem zu beruhigen, damit Juang und Sunyu nicht sofort merkten, wie sehr sie sich beeilt hatte.

Die offene Schmiede war an einen Stall angebaut, den der genügsame Esel Adalbert sein Reich nannte. Das graue Tier reichte Tindra gerade mal bis zur Brust und war sturer als die Mauer um das Anwesen des Schmiedemeisters.

Noch stand die Schmiede mit ihrem strohgedeckten Dach und den vor Russ schwarzen Holzpfosten im Schatten der mächtigen Eiche, die sich im Laufe der Jahre im Innenhof zu einer imposanten Erscheinung gemausert hatte. Neben ihrem Stamm, und damit selbst tagsüber oftmals im Schatten, sorgte ein Brunnen jederzeit für frisches, klares Wasser. Bei der Arbeit zwischen den beiden Essen, in der trockenheissen Luft, tat die Abkühlung des Wassers doppelt gut. Tindra lächelte, als ihre Augen über den kreisrunden Schacht glitten. Sie freute sich schon jetzt auf die Abkühlung.

Beide Essen waren bereits befeuert. Unerbittlich vertrieben sie die kühle Morgenluft, die Tindra gern ein wenig länger genossen hätte. Sunyu hämmerte an dem Dolch, den ein Dorfbewohner gestern in Auftrag gegeben hatte. Der gerade erst ausgelernte Schmied fand Gefallen an jeglicher Art von Waffen. Er hatte schon einige ausgefallene Schwerter geschmiedet, eines sogar aus dem seltenen Metall aus Kvora, das grünlich blau schimmerte. Vihtan hiess es, wenn sie sich nicht täuschte. Sie hatte keine Ahnung, wie er es in seine Finger bekommen hatte, aber sie beneidete ihn ein bisschen darum.

Auf seinem Kopf glänzten erste Schweissperlen. Schon jetzt, noch bevor die Sonne komplett aufgegangen war, hatte er sein Hemd ausgezogen und stellte seine muskulösen Oberarme zur Schau. Auf der Brust schlängelte sich ein tätowierter Drache bis zu seinem Hals und schien mit Sunyus Bewegungen zu tanzen. Oberhalb der Brust verschwand das mystische Wesen unter der ledernen Arbeitsschürze.

Sie wusste nicht, wieso, aber für sie hatte es immer wie ein Tanz ausgesehen, obwohl sich das übernatürliche Wesen wahrscheinlich zu einem Kampf bereit machte. Es passte auch besser zu dem brummigen Gesellen.

Vielleicht, wenn es nicht Sunyu gewesen wäre, hätte sie ihn gern bei der Arbeit beobachtet, so wie die anderen Mädchen im Dorf. Seit sie in der Schmiede arbeitete, waren diese plötzlich viel netter ihr gegenüber – und das hatte ganz bestimmt nicht mit plötzlicher Einsicht ihrer Altersgenossinnen zu tun. Schon in der Schule war Sunyu beliebt gewesen.

»Guten Morgen«, begrüsste Juang sie und holte sie aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er werkelte an einem filigranen Schmuckstück und versuchte, einen fein geschliffenen Rubin in der Vertiefung am Armband zu fixieren. Als der Edelstein davonrollte, fluchte der Lehrmeister und warf die Pinzette auf den Tisch.

»Morgen.« Innerlich schmunzelte Tindra, doch sie konnte es ihm nicht verübeln. Die vielen Schmiedejahre hatten aus seinen Händen ledrige Pranken werden lassen, die jedem Bären Furcht eingeflösst hätten. Für feine Arbeiten wie Schmuck waren seine Finger immer irgendwo im Weg. Sie ging zu ihm, legte den Edelstein mithilfe der Pinzette in das Armband und bog die dafür vorgesehenen Metalldrähte so, dass sich der Rubin nicht mehr lösen konnte.

»Danke.« Juang seufzte und wischte sich den Schweiss von der Stirn. »Ich weiss schon, weshalb ich dich eingestellt habe.« Ein feines Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab.

Tindra lachte leise, Sunyu schnaubte. Sie wusste ganz genau, was er dachte: Eine Frau, ganz besonders sie, war nicht einmal in der Lage, ordentliche Nägel zu schmieden – und würde es auch nie sein.

Immer wieder nahm er sich Frechheiten ihr gegenüber heraus und liess es – meist sehr erfolglos – so aussehen, als sollte diese niemand hören oder sehen. Bisher hatte sie noch nicht herausgefunden, wo genau sein Problem lag, doch inzwischen ignorierte sie ihn.

»Guten Morgen, Sunyu.« Sie setzte ein überfreundliches Lächeln auf, bevor sie ins Hinterzimmer schritt und das beruhigende Gewicht der schweren Lederschürze auf ihren Schultern willkommen hiess.

Zurück am Arbeitsplatz schürte sie das Feuer und rückte die Kohle zurecht. Wenigstens das hatte sie in den letzten Wochen gelernt. Jedenfalls herrschte Juang sie deswegen nicht so häufig an wie Sunyu, der die Essen seit vier Jahren befeuerte, was sie ein wenig stolz machte. Nur zeigen durfte sie das nicht, ansonsten hätte sich der junge Mann bestimmt neue Gemeinheiten einfallen lassen.

Irgendwie hoffte sie, dass Juang ihn bald entlassen würde. Immerhin hatte er seine Ausbildung abgeschlossen und für drei Schmiede gab es in Steinwacht zu wenig Arbeit. Bald würde sie viele Aufgaben des Gesellen übernehmen können, da war sie sich sicher.

Wenigstens träumte sie davon.

»Beginne mit den dreihundert Nägeln, die wir nächste Woche abliefern müssen.« Meister Juang hob nur kurz den Blick. Was in seinen dunklen Augen stand, konnte Tindra nicht sagen. Der untersetzte, kräftige Mann gab ihr regelmässig Rätsel auf, doch sie mochte ihn so, wie er war. Er urteilte nicht, er nahm sie mit jeder ihrer schrulligen Eigenheiten an.

Davon konnte sich Sunyu eine dicke, dicke Scheibe abschneiden.

Sie holte sich das benötigte Eisen sowie einen Hammer und begann mit ihrer Arbeit. Als wüssten ihre Hände schon lange, was sie tun mussten, formten sie das Metall zu einer dünnen Stange, schnitten sie mit der Zange und formten Kopf und Spitze. Schnitt, drehen, Kopf und Spitze.

Als sich der erste Tropfen Schweiss von ihrer Stirn löste, zischte es auf dem heissen Metall. Wie ein gieriger Schlund hüllte die Hitze der Esse sie ein. Sie fand sich in einer anderen Welt wieder, in der es nur trockene Wärme, Schweiss und Blasen an den Händen gab. Ihre Kehle brannte, die Augen tränten, doch jeder weitere Nagel erfreute ihr Herz ein bisschen mehr.

Gerade weil Juang und Sunyu ihr an Kraft und Ausdauer deutlich überlegen waren, wollte sie mit ihrer Beharrlichkeit punkten. Noch wusste sie nicht, ob Juang bis zum Schluss zu seiner Entscheidung, sie zu einer Schmiedin auszubilden, stehen würde, oder ob er bei Gelegenheit aufgab. Wirklich viel hatte sie in den letzten Monaten nicht zustande gebracht, da musste sie Sunyu recht geben. Deshalb galt es so viel Einsatz zu zeigen, wie sie nur konnte.

Plötzlich entdeckte Tindra aus den Augenwinkeln eine blutrote Flamme am Holz. Erschrocken fuhr sie zusammen und beobachtete die Glut genauer, schüttelte aber den Kopf, als sie nichts Auffälliges bemerkte. Vielleicht hätte sie gestern Abend doch früher ins Bett gehen sollen. Verwirrt erhitzte sie das Eisen weiter, bis es formbar war.

Draht, Schnitt, Kopf, Spitze, Eimer.

Zum gefühlt tausendsten Mal nahm sie den Hammer in die Hand und holte aus. Mit dem Arm über dem Kopf hielt sie inne.

Auf dem Amboss lag ein reich verzierter Schlüssel. An seinem Griff glänzten verschiedenste Edelsteine, sorgfältig in Vertiefungen gelegt, und der Bart deutete kunstvolle Ranken wie die zarten Arme von Winden an.

Verwirrt hob sie den Blick. Hatte Sunyu ihr einen Streich gespielt? Doch weder der junge Schmied noch Juang stand nahe genug, um ihn ihr hingelegt haben zu können. Ausserdem hatte sie eben erst noch einen Nagel geschmiedet.

Vorsichtig griff sie nach dem Schlüssel und liess ihn gleich wieder fallen, als das heisse Metall ihre Finger verbrannte. Blasen formten sich vor ihren Augen, dann schälte sich die Haut ab. Sie schluckte.

»Juang?« Trotz des Brennens ihrer Haut konnte sie sich nur auf das Kunstwerk, nicht aber auf ihre Verletzungen konzentrieren.

Ihr Lehrmeister kam zu ihr, legte den Kopf schief und betrachtete den Schlüssel. Dann lachte er laut los. »Schöner Nagel, Mädchen.« Er klopfte ihr so heftig auf die Schultern, dass sie ein wenig in die Knie ging. »Fast hättest du mich reingelegt.« Er wandte sich breit grinsend an Sunyu. »Komm mal her und schau, was sich Tindra für uns ausgedacht hat.«

Übertrieben gelangweilt hob der junge Schmied den Kopf und musterte ihr Werk. »Wie soll das gehen, wenn sie keinen anständigen Nagel schmiedet?«

»Aber er ist noch heiss«, versuchte sich Tindra zu verteidigen und gab sich Mühe, die Spitze in Sunyus Worten zu überhören. »Er wurde gerade erst geschmiedet.«

Juang horchte auf und musterte sie aus schmalen Augen.  Schliesslich seufzte er leise, ehe er sich entspannte. »Komm mit.«

Schweigend folgte sie ihrem Meister aus der Schmiede hinaus, bis zum Brunnen im Innenhof, wo er einen Kübel voll klaren Grundwassers hochzog. Ohne auf ihr Einverständnis zu warten, packte er ihre Hand und tauchte sie ganz ein. Das kühle Nass beruhigte die Verbrennung, erleichtert atmete Tindra aus.

»Weisst du eigentlich, weshalb ich dich eingestellt habe?«, begann ihr Lehrmeister das Gespräch.

Kleinlaut schüttelte sie den Kopf. »Nein.«

Er lächelte. »Ich habe das Feuer in deinen Augen gesehen, den tiefsten Wunsch in deinem Herzen, etwas mit deinen Händen zu erschaffen.« Gedankenverloren drehte er das Armband, das er zu reparieren versuchte, zwischen seinen Fingern. »Nun brennt es noch heller als damals.« Sein Blick fing den ihren ein und hielt ihn fest, sodass Tindra am liebsten peinlich berührt weggesehen hätte, doch sie schaffte es nicht.

»Danke.« Verwirrt schluckte sie und hoffte, dass dieses Gespräch bald zu Ende sein würde. Sie war es nicht gewohnt, dass der Meister ihr Komplimente machte. Selbst bei Sunyu hielt er sich zurück. Jetzt gerade hatte er sie zum ersten Mal gelobt – wenn man es denn als solches betrachten wollte.

»Lass dich nicht von Sunyu unterkriegen, eigentlich ist er ein ganz netter Kerl. Und er mag dich.«

Ungläubig schnaubte sie und warf einen Blick zwischen den Stützbalken hindurch auf den jungen Mann. »Natürlich, und ich bin eine Auserwählte der Seylani.«

Juang erhob sich seufzend und bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. »Vielleicht solltest du wenigstens versuchen, dich mit ihm anzufreunden.« Mit weit ausholenden Schritten ging er auf die Schmiede zu.

Überrumpelt von der versteckten Anschuldigung starrte sie ihm mit offenem Mund hinterher. Jetzt war sie also auch noch schuld an der schlechten Stimmung in der Schmiede. Dabei hatte Sunyu doch angefangen und konnte es nach wie vor nicht lassen, sie bei jeder Gelegenheit an ihre Unfähigkeit zu erinnern.

Etwas genervt beobachtete sie ihren Meister, der zurück zu seinem Arbeitsplatz ging und weiter an dem filigranen Armband werkelte. Mit wenig Abstand folgte sie ihm unter das Dach der Schmiede. Die Arbeit rief, ob mit oder ohne Schlüssel.

Mit noch feuchter Hand hob sie den Schlüssel auf. Wie er auf ihrem Amboss gelandet war, spielte keine Rolle. Sie musste endlich weiter an den Nägeln arbeiten. Wie Sunyu gesagt hatte, brauchte sie noch sehr viel Übung – falls Übung und Talent überhaupt jemals reichen würden, um sich ein Leben als Schmiedin irgendwo weit weg von Steinwacht aufzubauen.

Plötzlich wurde die Umgebung hell und kalt, als hätte jemand einen Schwamm genommen und alle Farben, die Wärme und Konturen von der Welt gewischt und nur diffuses Licht zurückgelassen. Verwirrt blieb sie stehen und drehte sich um die eigene Achse. Sogar die Glut in den beiden Essen leuchtete nur schwach rotorange. Eine einzelne blutrote Flamme flackerte so hell auf, dass es sie blendete.

Direkt neben dem Brunnen erschien eine golden leuchtende Tür mit filigranem, aber reich verziertem Rahmen. Metallene Pflanzen mit kleinen Blättern und hübschen Blüten wanden sich empor und vereinten sich an der höchsten Stelle zu einer Ode an die beiden Göttinnen.

Der Schlüssel in ihrer Hand glühte auf und wurde warm, wenn nicht gar ein wenig heiss. Vor Schreck liess sie ihn fallen und im selben Augenblick nahm die Welt ihre Farbe wieder an. Die Schmiede um sie herum war klar wie eh und je, nur düsterer, als würde sie sich im Wolkenschatten vor drohendem Regen verstecken. Trotzdem ahnte Tindra, dass es nur mit dem grellen Licht von vorher zu tun hatte. Das Tor verschwand so spurlos, wie es aufgetaucht war.

Ein eisiger Schauer erfasste ihren Körper und liess sie erzittern. Was sollte das?

Immer noch regungslos vor Schreck starrte sie auf das Stück Metall in Schlüsselform, das vor ihrem linken Fuss lag und verheissungsvoll flüsterte. Wie war das nur möglich? Bestimmt wurde sie langsam verrückt. Ihre Mitschülerinnen lagen mit den Anschuldigen wohl nicht ganz daneben. Eine Tür hier mitten im Hof, neben dem Brunnen, das konnte nicht sein. Noch immer zitternd holte Tindra Luft und versuchte, die flatternden Nerven zu beruhigen. Es gelang ihr nicht einmal ansatzweise.

Das Lachen der beiden Männer schallte zu ihr herüber. Sie fühlte sich ertappt, wandte ihnen den Blick zu. Keiner sah sie an, also hatten sie sich offenbar einen Witz erzählt.

Mit einem Seufzen drehte sie sich zum Amboss. Sie musste weiterarbeiten, die Zeit drängte. Aber dann musste sie den Schlüssel in die Hand nehmen, sie konnte ihn doch nicht einfach auf dem Boden liegen lassen. Doch wer wusste denn schon, was dann passierte?

Tindra schluckte.

Laut trommelte das Herz in ihrer Brust, als sie den schmucken Schlüssel mit geschlossenen Augen aufhob. Falls das Tor wieder auftauchte, wollte sie es nicht sehen.

Abermals vernahm sie Sunyus Lachen. »Schau, sie läuft mit geschlossenen Augen umher. Sie kann ihre eigenen Nägel schon gar nicht mehr sehen, weil sie wie Schlüssel aussehen!«

Tindra öffnete die Augen, um ihn wütend anzufunkeln, und sah gerade noch, wie der Meister Sunyu die Hand an den Hinterkopf schlug. Einen Moment verharrte sie sprachlos, dann unterdrückte sie das aufkommende Lachen. Ganz wollte ihr das nicht gelingen. Dass Juang Sunyu strafte, war etwas Neues, das hatte sie noch nie bei ihm gesehen.

»Hör auf mit deinen Gehässigkeiten. Wenn du nach kurzer Zeit schon dreihundert Nägel hättest schmieden müssen, hätte ich mein Geschäft schliessen können.«

Überrascht hielt Tindra die Luft an. Hiess das, dass sich Sunyu – wenigstens in der ersten Zeit – noch ungeschickter angestellt hatte als sie? Vor Freude wäre sie am liebsten in die Luft gesprungen, doch in diesem Moment verblasste ihre Umgebung wieder und wollte hinter dem grellen Licht verschwinden. Augenblicklich klopfte ihr Herz lauter gegen die Brust. Sie wollte nicht wieder in dieser Kälte bei diesem komischen Tor landen. Mit panischen Schritten eilte sie an ihren Arbeitsplatz, damit sie den warmen Schlüssel neben ihren Amboss legen konnte. Bevor sie ihn aus der Hand gab, warf sie einen Blick zum Brunnen zurück.

Das Tor brannte lichterloh.

Mit zitternden Fingern liess sie das Metall los und trat einen Schritt zurück. Trotzdem raunte ihr der Schlüssel verheissungsvoll zu, ihn wieder aufzuheben und die Tür damit zu öffnen.

Stattdessen trat sie die Flucht nach vorn an, indem sie sich an Juang wandte. »Gibt es eigentlich versteckte Türen?«

Sunyu lachte laut los. »Bist du nun von Seylani höchstpersönlich verlassen?« Offenbar fand er es so lustig, dass er vergass, sie abschätzig zu mustern. Stattdessen sah er sie mit einem amüsierten Blitzen in den Augen an.

Nervös schluckte sie. Diese haselnussbraunen Augen … Er war es also doch gewesen! Als Einziger hatte er sie freundlich willkommen geheissen.

Die entschlossene Stimme des Meisters riss sie aus ihren Erinnerungen. »Versteckte Türen gibt es überall.« Sein Blick wanderte zum Schlüssel und bliebt dort einen Moment zu lange hängen. Seine sowieso schon schmalen Lippen wurden noch dünner, als er sich abwandte.

Juang wusste also etwas, sie kannte ihn gut genug. Doch er schwieg eisern.

Schon am späten Nachmittag, als sich Tindra noch immer mit ihren Nägeln abmühte – sie hatte ganz besonders darauf geachtet, auch wirklich Nägel zu schmieden –, trat Juang zu seinen beiden Schützlingen. Unter dem Arm trug er ein dickes Buch, was Tindra so nicht von ihm kannte.

»Löscht die Feuer.« Juang wartete, bis sie die nötigen Handgriffe ausgeführt hatten, dann folgten sie ihm nach draussen an die frische Luft. Auch wenn die Schmiede zu zwei Seiten hin offen war, der Temperaturunterschied war deutlich zu spüren.

Trotz der Tatsache, dass die Herbstluft kühler sein sollte als im Sommer, brannte ihnen die Sonne unbarmherzig auf die Köpfe. Auf dem hellen Granittisch warteten neben einem Krug Wasser Kekse und eine Schale mit frischen Früchten. Sunyu setzte sich, ohne zu zögern, und griff nach einem grünen Apfel, genau die Sorte, die sie selbst wegen ihres säuerlichen Geschmacks auch so sehr mochte. Bestimmt hatte er absichtlich nach diesem gegriffen.

Juang liess sich auf der anderen Seite des Tisches nieder, legte das Buch auf die Steinplatte und strich nachdenklich, vielleicht sogar ein wenig wehmütig über den Einband.

Innerlich seufzte Tindra auf. Früher hatte sie gern gelesen, aber nachdem sie mit ihrer Familie nach Steinwacht gezogen war, hatte sie es aufgegeben. Die fremden Kinder hatten sie deswegen nur ausgelacht. Abgesehen davon war Steinwacht einer der letzten Orte in ganz Mra’Theel, der die alte Schrift noch benutzte, sodass sie einige Zeit gebraucht hatte, um im Unterricht überhaupt etwas lesen, geschweige denn schreiben zu können.

»Seit wann haben wir auch noch Theorie?«, grummelte Sunyu.

Unglaublich, wie es Juang die letzten vier Jahre mit diesem Brummbären ausgehalten hatte. Tindra verdrehte die Augen.

Geflissentlich überging ihr Lehrmeister den Seitenhieb Sunyus. Stattdessen warf er ihr einen Blick zu und zeigte auf die Schale mit den Früchten.

Ihrem Lehrmeister zuliebe nahm sie eine Aprikose und hiess die saftige Süsse willkommen, als sie hineinbiss. Normalerweise machten sie abgesehen vom Mittag keine Pausen. Wer durstig war, ging selbstständig zum Brunnen und holte Wasser aus der Tiefe. Nur selten unterbrach Juang sie in ihrer Arbeit, und wenn, dann hing es meist mit dem zusammen, was sie gerade taten. Oder sie lernten, mit den Gegenständen umzugehen, die sie schmiedeten, und da sie keine Nägel einschlugen, hiess das, dass sie gegeneinander kämpften.

Tindra seufzte, als ihr Blick bei diesem Gedanken auf die Schwerter fiel, mit denen sie die Übungskämpfe bestritten. Es stand ausser Frage, wer jeweils gewann. Sunyu liess keine Gnade walten, Juang ihre Nachteile in Bezug auf die körperlichen Unterschiede und mangelnde Erfahrung nicht gelten. »Ein Angreifer nimmt darauf auch keine Rücksicht«, pflegte er zu sagen.

Dass ein Angreifer niemals eine Frau bedrohen würde, hatte seine Gedanken noch nicht erreicht.

Der Meisterschmied öffnete endlich das Buch und blätterte einige Seiten um, dann verharrte er und drehte den Wälzer zu Tindra um. Neugierig lehnte sich auch Sunyu zu ihr herüber, sodass ihr sein herber Schweissgeruch in die Nase stieg.

Ihr verschlug es die Sprache. Sie erkannte das Bild eines Schlüssels, der, obwohl er ganz alltäglich wirkte, genauso aussah wie derjenige, den sie auf ihrem Amboss gefunden hatte. Der verschnörkelte Ring oben, der filigrane Schaft, selbst der Bart glich dem ihren aufs Haar genau. Wie war das nur möglich? Verwirrt sah sie erst Juang, dann Sunyu an.

Der junge Schmied schluckte ebenfalls und zog das Buch näher zu sich heran. Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte er den gezeichneten Schlüssel, dann überflog er den Text auf der linken Buchseite. Tindra wartete gespannt.

»Unmöglich!«, rief er schliesslich aus. Wie sie wenige Augenblicke zuvor, starrte er erst Juang an, doch als dieser nichts entgegnete, drehte er sich zu Tindra um. Sein zweifelnder Blick suchte in ihrem nach einer Antwort auf die unbekannte Frage.

»Was ist denn los?«

Juang seufzte, massierte sich das Gesicht mit beiden Händen. Sein Bart kratzte hörbar. Als er antwortete, wählte er die Worte mit Bedacht. »Ihr wisst, dass ich mich gern mit alten Geschichten und Legenden befasse. Als du heute nach der versteckten Tür gefragt hast, nachdem der Schlüssel aufgetaucht ist, habe ich mich an etwas erinnert, das ich vor langer Zeit einmal gehört habe. Hier habe ich eine Antwort gefunden.« Er tippte auf das Bild mit dem Schlüssel.

»Eskild hat mir auch schon von den Schlüsseln erzählt …«, warf Sunyu zu Tindras Überraschung ein.

Sein Vater also, den er offenbar nicht ausstehen konnte. Jedes Mal, wenn die Sprache auf ihn fiel, wechselte der junge Mann das Thema, verabschiedete sich plötzlich vom Gespräch oder kehrte in sich. Meist trat eine Ader an seinem Hals hervor, ein Zeichen der Wut. Auch jetzt pulsierte die Haut über der geschwollenen Blutbahn im Takt seines Herzschlags. Sunyu schien sich von seiner Überraschung etwas beruhigt zu haben, doch ganz traute sie dem Frieden noch nicht.

»Sie sollen einzelne Orte miteinander verbinden, den Platz dazwischen zum Verschwinden bringen. Früher gab es gut zwei Dutzend solcher Schlüssel und noch weit mehr Tore, die ohne die Schlüssel unsichtbar und unbegehbar blieben. Nur ein Meisterschmied konnte sie erschaffen.«

Für Sunyu war das eine erstaunlich ausführliche Erklärung gewesen, vor allem, weil diese ohne einen einzigen Fluch auskam. Sein Blick blieb wieder an Tindra hängen, doch sie nahm das kaum wahr.

Meisterschmied … er hatte Meisterschmied gesagt. Tindra schluckte. Abgesehen von diesem einen Gedanken war ihr Kopf leer.

»Jetzt gibt es nur noch ein paar wenige. Wie viele es genau sind, weiss niemand. Bei Doana, das ist unmöglich …« Er schüttelte abermals den Kopf, sein Blick ruhte noch immer auf ihrem Gesicht.

»Ich traue der Sache nicht«, gestand Juang und versteckte das Gesicht hinter den riesigen Händen. Überforderte ihn die Situation derart? Sogar ein Zittern in seiner Stimme war zu hören, als er weitersprach. »Hast du ihr den Schlüssel hingelegt?«, fragte er Sunyu.

Dieser schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. Offenbar verunsicherte die Ratlosigkeit ihres Meisters nicht nur Tindra. Sie kannte den untersetzten Schmied nur als in sich gekehrte, aber durchaus selbstsichere Persönlichkeit, nicht als jemanden, der keinen Rat wusste.

»Tindra?«

Sie schrak hoch. »Ja?«

»Hast du den Schlüssel hergestellt?«

Was sollte sie sagen? Sie konnte sich nicht daran erinnern, was genau sie gemacht hatte. Ihre Gedanken hatte sie schweifen lassen, während sie die Nägel schmiedete, und sie hatte keinen blassen Schimmer, wie der Schlüssel auf ihren Amboss gekommen war. Wenn sie es ganz genau nahm, dann hatte sie ein paar Augenblicke nicht ganz aufgepasst, was ihre Finger getan hatten. Aber sie konnte doch nicht einfach so einen Schlüssel herstellen, noch dazu einen solch filigranen, hübschen.

»Wir könnten in deinem Metallvorrat nachsehen. Die Nägel sind aus Eisen, der Schlüssel hingegen besteht aus nicht miteinander verschmolzenem Gold und Silber. Die einzige Möglichkeit, an Gold und Silber zu kommen, dürfte dein eigener Schrank sein«, schlug Sunyu vor. Unglaublich, wie konstruktiv er sein konnte, wenn er wollte. Davon hatte sie bisher noch keine Ahnung gehabt.

Tindra stand auf und holte den kleinen Schrank, in dem sie die wenigen edlen Metalle, mit denen sie arbeiten durfte, aufbewahrte. Ein Freund hatte ihn ihr als Abschiedsgeschenk gezimmert, nachdem ihr Vater seine Existenz wieder einmal aufs Spiel gesetzt und verloren hatte. Obwohl er nicht gewusst hatte, dass sie einmal Schmiedin lernen würde, passte sein Werk nun perfekt. Vorsichtig öffnete sie ihn.

Ein überraschter, erschrockener Laut kam über ihre Lippen. In ihrem Brustkorb hämmerte ihr Herz laut und viel zu schnell, als wäre es am liebsten aus der Situation geflohen. Gold und Silber fehlten komplett.

Sie schluckte nervös und sah Juang verzweifelt an. »Aber es kann doch nicht sein, dass ich so neben mir stehe und einen Schlüssel anstelle eines Nagels schmiede.« Inständig hoffte sie, dass er die Sache schnell aufklären würde. Seine und Sunyus zusammengezogene Augenbrauen machten ihr fast so viel Angst wie die Tatsache, dass der junge Schmied sie seit Beginn dieses Gesprächs nicht verbal angegriffen hatte.

»Seylani und Doana mögen uns beistehen«, flüsterte der breitschultrige Mann und schloss das Buch. »Wenn es das ist, was wir vermuten, dann ist der Schlüssel sehr mächtig. Und begehrt!« Er seufzte abermals. »Sunyu, bring Tindra nach Hause.«

»Nein«, erwiderten beide im Chor.

»Keine Widerrede«, beschwor der Meister sie und hob dabei den Zeigefinger mahnend in die Höhe. »Ich will, dass du sie nicht auch nur einen Wimpernschlag aus den Augen lässt, es ist zu gefährlich. Ansonsten bist du deine Anstellung hier los. Bewaffnet euch, bevor ihr geht – ihr beide.«

Tindra schluckte abermals. Falls jemand sie mit einem Schwert in der Hand entdeckte, war sie sich der Konsequenz durchaus bewusst. Selbst Trainingskämpfe waren schon grenzwertig.

Im Gegensatz zu ihr stellte sich Sunyu geschickt an. Er war begabt, schnell und kräftig. Abgesehen davon verfügte er über eine unglaubliche Treffsicherheit – nicht nur mit dem Schwert, auch mit seinen Sprüchen.

Tindra dagegen … Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. Was sie konnte, war nicht der Rede wert. Ausserdem würde sie mit jedem Schwerthieb in den Augen der Göttinnen an Ansehen verlieren. Ihr wohnte das Geschenk der Göttinnen inne, ein Funken Lebensmagie, der sie befähigte, Leben zu schenken und zu erhalten. Diese Fähigkeit durfte von niemandem angegriffen werden, ansonsten drohte ewiges Verderben. Deshalb wagte es niemand, eine Frau anzugreifen.

Wenn sie sich aber selbst gegen den Schutz des Lebens entschied, indem sie jemand anderes mutwillig verletzte, verweigerte sie das Geschenk der Seylani und der Doana und somit ihren Status als unantastbarer Funken göttlichen Wirkens. Sie würde zu Freiwild, einer Lebensform, die unter dem Dasein der Männer dahinvegetierte. Freiwild besass keine Rechte, ausser dem, sich zu verteidigen.

An der Drohung, seinen Schützling rauszuwerfen, konnte sie erahnen, wie ernst er die Situation einschätzte. Trotzdem fand sie es übertrieben. Ihr würde nie jemand zutrauen, etwas zu schmieden. Selbst Sunyu zweifelte täglich daran, obwohl er ihre Fortschritte sah. Also würde ihr auch niemand auf der Suche nach dem neuen Schlüssel hinterherspionieren.

Widerstrebend suchte sie sich einen Dolch und ein Schwert aus dem Hinterzimmer der Schmiede, nachdem sie ihre Schürze abgelegt hatte. Sunyu griff nach seinem Schwert mit der geheimnisvoll leuchtenden Klinge, das sie insgeheim schon immer bewundert hatte.

Ruppig 

SUNYU

 

Sunyu schlurfte neben Tindra her. Die Schotterpiste führte sie in einem lang gezogenen Bogen den Hügel hinauf, auf dessen Kuppe Tindras Eltern das leer stehende Haus gekauft hatten. Ihr Vater hatte Bier nach Steinwacht gebracht, richtiges Bier, nicht das wässrige Gesöff der Gebiete um Steinwacht herum. Bestimmt verdiente er sich und seiner Familie einen goldenen Arsch dabei.

Sein Blick fiel auf die angehende Schmiedin. Sie hielt den Kopf gesenkt und wartete nur darauf, dass ihm ein dummer Spruch einfiel – und auf den wartete er auch noch. So lustlos kannte er sie gar nicht. Selbst ihr dicker Zopf hing schlaff über der Schulter, anstatt mit ihr und dem Wind zu tanzen.

Sein Atem ging für einen Augenblick etwas schwerer, als würde Wasser auf seine Brust drücken.

Jedes Mal, wenn sein Vater ihm von den Schlüsseln erzählte, erwähnte er im selben Atemzug die glorreichen Schmiedemeister, die sie hergestellt hatten.

Tindra hatte es nach nicht einmal einem halben Jahr Ausbildung geschafft. Sie hatte einen magischen Schlüssel geschmiedet. Noch in der Schmiede hatte Sunyu beobachtet, wie sie ihn angestarrt und schliesslich in ihrer Kiste versteckt hatte.

Er hatte ihn heimlich mitgenommen.

In seiner Magengegend grummelte es. Dieser verdammte Schlüssel. Wieso hatte er nicht wenigstens versucht, einen zu schmieden, wenn er schon davon wusste? Auch wenn es nicht geklappt hätte, er hätte es wenigstens versucht.

Sunyu seufzte. Egal, wie man es drehte und wendete, er war eifersüchtig. Tindra hatte ein Meisterwerk erschaffen. Sie war besser als er, selbst Juang hatte das heute angedeutet.

So würde er nie seine eigene Schmiede bekommen. Juang würde seinen Betrieb an Tindra vermachen, wenn er ihn dereinst abgab. Dabei war Juangs Kinderlosigkeit Sunyus einzige Chance, sich in absehbarer Zeit eine eigene Existenz aufzubauen.

Beim dürren Arsch der Seylani und ihrem verfaulten Zeh!

Und jetzt drohte er ihm auch noch mit dem Rauswurf, so kurz nach Abschluss der Ausbildung. Ungerechter ging es nicht. Er brauchte das Einkommen und mochte sich nicht ausmalen, was sein Vater mit ihm anstellen würde, wenn diesem der Schnaps ausging.

Vielleicht sollte er Tindra eigenhändig auslöschen? Oder sie entführen und ihre Familie erpressen, immer genügend Bier zu ihm nach Hause zu liefern? Wenn er es sich recht überlegte, schien das ein gangbarer Weg. Vielleicht konnte er auch einfach anklopfen und Tindras verschrobene Mutter um die Hand ihrer Tochter bitten? Ein anderer wollte sie sowieso nicht. Und wenn das Bier ausging, konnte er genau mit diesem Argument mehr verlangen.

Der Plan war so perfekt, dass er versucht war, ihn hier und jetzt in die Tat umzusetzen. Tindra heiraten und von ihrem Alten das Bier einheimsen. Hörte sich machbar an.

Aber auch wenn er sie nicht mochte, sie, die so perfekt und fröhlich war, konnte Sunyu sie nicht einfach aus dem Weg räumen. Eskild hatte schon seine Mutter aus dem Weg geräumt. Das reichte.

Im Wald neben ihnen raschelte es, er schrak zusammen. Seine Hand lag angespannt auf dem Heft des schimmernden Schwertes. Sunyu starrte in den Wald hinein, der ihm finsterer schien als die tiefste Stelle von Seylanis dürrem Arsch.

Tindra lachte und riss ihn damit aus seinen Gedanken. »Das ist doch bloss ein Tier. Vermutlich fürchtet es sich mehr vor dir als du dich vor ihm.«

Er brummte. Natürlich hatte er keine Angst, so etwas gab es bei ihm nicht. »Komm endlich.« Nach diesem beschissenen Tag wollte er einfach nur nach Hause. Wobei … Er schüttelte den Kopf, sodass seine Bartzöpfe nur so flogen. An sein Zuhause wollte er nicht denken. Es war besser, wenn er Tindra nach Hause brachte – dann konnte er seinem Alten noch ein wenig ausweichen.

»Warum bist du immer so ruppig?«

Die Frage traf ihn völlig unvorbereitet. Bisher hatte sie ihn noch nie so direkt angesprochen, erst recht keine Frage gestellt. Ruppig? Er? Sie hatte seinen Vater noch nicht kennengelernt, der war ruppig … und noch viel mehr. »Du träumst, Mädchen.« Wie ein Bär, der vor sich hin brummte. Vielleicht hatte sie ja doch ein bisschen recht?

Sie drehte sich mit erstaunlich wachen Augen zu ihm um. Das Zucken in ihnen verriet ihre Unsicherheit. »Ich bin mir ziemlich sicher«, begann sie mit ihrer weichen Stimme, »dass du mich an meinem ersten Schultag angesprochen hast. Freundlich sogar.«

Er schluckte nervös. Mit ihrer überraschend direkten Art hatte er nicht gerechnet, sie war doch sonst nicht so … nicht so selbstsicher, forsch. Ihre Augen suchten nach einer Bestätigung in seinem Gesicht, doch er lächelte nur herablassend. »Du träumst immer noch.«

Ein weiteres, lauteres Rascheln unterbrach das Gespräch. Sunyu schnellte herum, sein Schwert lag in seiner Hand. Aus dem Wald sprangen sechs riesige Männer, etwas grösser, als er selbst es war.

Der Anblick der Gestalten stellte ihm auch ohne genauere Betrachtung die feinen Härchen im Nacken zu Berge. In Zotteln hingen ihnen die fettigen Haare bis teilweise über die Schultern hinab, und die gespenstisch blasse Haut leuchtete in der Sonne, die sie sonst kaum zu Gesicht bekamen.

Die Larhun, das Schattenvolk.

Tindra schrie erschrocken auf. Einer der Männer lachte und packte sie am Arm, zerrte sie zu sich.

Sunyu nutzte die Ablenkung von Tindras schwacher Gegenwehr und stürzte sich auf einen der Riesen. Sein Schwert fuhr herum, doch der Angreifer schlug es ihm mit der blossen Hand weg. Nur ein dünner Schnitt zog sich über den Unterarm des Kriegers. Haut wie gegerbtes Leder, zumindest so hässlich war sie.

»Abschaum wie du kann nichts gegen uns ausrichten.«

Wütend ballte Sunyu die Hand zur Faust und holte aus, um sie dem Larhun mit voller Wucht von unten ans Kinn zu schmettern. Unter der Wucht brach etwas – ob es seine Hand oder der Kiefer des Schattenkriegers war, vermochte er nicht zu sagen. Den Schmerz in seinen Fingern nahm er kaum wahr, als er den Fall des Soldaten beobachtete.

Wenigstens gelohnt hatte es sich.

Sein Atem ging heftig, die Schultern bebten. Er suchte nach Tindra, die er um alles in der Welt beschützen musste. Ansonsten war er seine Anstellung los und mit ihr verlor er jegliche Perspektive auf ein eigenständiges Leben. Was ihm dann noch blieb, waren die Minen – ein Leben in der Dunkelheit zwischen funkelnden Edelsteinen.

Bestimmt schüttelte er den Kopf. Er würde sicher nicht aufgeben, nicht jetzt, da er endlich Gold für seine Arbeit bekam. Gold, das er dringend brauchte, um irgendwann seine eigene Schmiede zu eröffnen.

Mit grimmiger Entschlossenheit rammte er einem Angreifer den Ellbogen in die Magengrube, sodass dieser sich auf die Strasse übergab.

Ein Schwert stach nach ihm, er wich aus, doch der nächste Knauf erwischte ihn an der Schläfe. Kurz tanzten Sterne vor seinen Augen. Er achtete nicht darauf und wirbelte herum, in der Hoffnung, einen der Angreifer mit seiner Hand im Gesicht zu erwischen, doch der Angriff ging ins Leere. Der Schwung brachte ihn aus dem Gleichgewicht, er taumelte, machte einen Ausfallschritt.

Verdammte Scheisse.

Ein Schattenmann mit erstaunlich gepflegten, kurzen Haaren holte aus und traf ihn mit voller Wucht am Kinn. Es knackte hässlich. Der Schmerz trieb Sunyu die Tränen in die Augen, er fiel auf die Knie.

»Fesselt ihn. Und die Kleine auch«, befahl der Kurzgeschorene in ruhigem Ton. Ihm war nicht anzumerken, ob er wütend oder aufgebracht war.

»Aber Bram, eine Frau wird doch nicht …«, wandte einer der Krieger ein, wurde aber vom Anführer unterbrochen.

Verdammte Scheisse, diese Hurentochter von Seylani. Wieso griff die Göttin des Tages nicht endlich ein und beschützte ihre Tochter? Tindra sah ihr mit dem ebenmässigen Gesicht, den grossen Augen und dem fröhlichen Aufblitzen in ihnen so ähnlich, wenn sie voller Freude vom Ausflug mit ihrer Schwester Reina erzählte.

Zu deutlich war Tindras Nähe zu Seylani. Sie gehörte ins Licht.

Nicht so er, Sunyu.

Aber die Larhun sahen das anders. »Sie trägt Hosen, hat kräftige Arme und rissige Hände. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie die gesuchte Schmiedin ist, verschwindend klein ist, so dürfen wir es nicht riskieren, sie fälschlicherweise hierzulassen.«

Sunyu schmeckte Blut im Mund, ein Zahn fühlte sich locker an. Der Schlag dieses Mannes war unglaublich, die Wucht hatte selbst ihn zu Boden geworfen. Ihre Schmiedin? Diese Larhun waren also tatsächlich hinter dem Schlüssel her.

Der Soldat, den ein anderer Bram genannt hatte, ging vor ihm in die Knie und legte ein Messer an sein Kinn. Das kalte Metall zwang ihn, den Anführer anzusehen. In den dunklen Augen konnte er endlose Abgründe erkennen, die er alle durchwandert hatte. Ein Mann wie er würde nicht zögern, einen Kopf abzuschlagen.

»Lasst sie gehen«, brachte Sunyu gebrochen hervor, auch wenn es ihn in seinem Innersten schmerzte. Er hätte sich für sich selbst, nicht für Tindra einsetzen sollen. »Sie ist nicht die, die ihr sucht.«

Brams Messer schliff mit der Klinge über sein Kinn, hinterliess eine brennende Spur. Der Anführer erhob sich lachend. »Und einem Bastard wie dir soll ich Glauben schenken? Passt gut auf die Kleine auf, sie darf uns nicht entwischen.«

Bei Seylanis verfluchtem Arsch, das durfte doch nicht wahr sein! Woher wussten die Männer überhaupt von diesem verdammten Schlüssel?

Zwei der Larhun packten ihn an je einem Ellbogen, fesselten seine Hände hinter dem Rücken und zerrten ihn auf die Beine. Obwohl er ähnlich breit und schwer gebaut war wie sie, hatten sie keine Mühe damit. Was machten diese Männer tagein, tagaus, dass sie so viel Kraft entwickeln konnten?

Der Schmerz in seinem Kinn machte ihn etwas benommen. Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete er, wie einer der Männer Tindra fesselte und sie sich wie einen Sack Getreide über die Schulter warf. Für eine Frau war sie breit gebaut und kräftig, trotzdem deckte sie die eine Schulter nicht komplett ab. Sie warf Sunyu einen angsterfüllten Blick zu, er wandte den seinen ab.

Er hatte versagt.

Er würde seine Stelle verlieren – oder seinen Kopf, was wesentlich wahrscheinlicher war.

Wie gern hätte er Tindra befreit, nicht nur wegen seiner Stelle. Eine leise, blutrote Flamme entfloh seiner Hand, schlängelte sich an seinem Arm entlang nach oben, dorthin, wo der Schattenmann ihn festhielt. Sie kroch unter die ledrige Haut, doch im letzten Moment, als er sie überhaupt erst bemerkte, rief Sunyu sie zurück. Den letzten Wunsch seiner Mutter würde er respektieren, egal, was es ihn kostete.

Angesichts der Tatsache, wie fit und gross gewachsen die Schattenmänner waren, konnte er seine Angriffe wohl als Teilerfolg werten. Immerhin hatte einer einen gebrochenen Kiefer, genau wie er, und ein anderer hatte sein Mittagessen wieder hergegeben.

Als die Männer ihn knebelten, durchzuckte Schmerz seinen Körper. Mit an einem kurzen Seil zusammengebundenen Händen und dem Fetzen schmutzigen Stoffs im Maul hatte er keine Chance, sich zu wehren oder gar zu flüchten. In seinem Inneren loderte das Feuer, doch er hielt es unter Kontrolle.

Als er Tindra einen kurzen Blick zuwarf, stellte er fest, dass es ihr etwas besser erging als ihm. Betäubt vor Angst hing sie über der Schulter des Mannes und liess alles stoisch über sich ergehen. Wieso wehrte sie sich nicht? Von ihr hätte niemand erwartet, dass sie sich gegen die Angreifer auflehnen würde, sie hätte bestimmt eine Chance gehabt. Na ja, vielleicht. In den Übungsstunden stellte sie sich mehr als ungeschickt an. Einmal war sie über ihre eigenen Füsse gestolpert und hatte sich selbst die Wange aufgeschnitten. Einen dünnen, roten Strich sah man jetzt noch, wenn man sie genau betrachtete.

Mann, wie hatte er gelacht. Köstlich war es gewesen.

Einsam

ARIN

 

Sein Kopf hämmerte, als wäre eine Horde Reiter mit ihren beschlagenen Pferden über ihn hinweggedonnert. Mit einem Stöhnen griff sich Arin an die Stirn. Sofort bereute er die Bewegung. Wie ein Blitz durchzuckte der Schmerz seinen Arm, ihm wurde übel. Er versuchte sich an einem Blinzeln, doch mehr als dunkle Leere konnte er nicht ausmachen.

Trotzdem gab er nicht auf. Als er die Augen zum wiederholten Male öffnete, schärften sich die Konturen zu Baumstämmen und Blättern, Steinen und braunem Boden. Erleichtert atmete er aus. Wenigstens war die Schwärze vor seinen Augen verschwunden, auch wenn ihm der Schädel brummte.

Noch tanzten dunkle Flecken durch sein Gesichtsfeld, also wartete er einige Atemzüge, bevor er die Knie näher an seinen Körper zog. Als sich sein Rücken rundete, spürte er die harte, raue Oberfläche des Baumstamms und wie steif er sich fühlte. Wie lange hatte er hier geruht? Dem Sonnenstand und der Wärme nach zu urteilen könnte es um die Mittagszeit herum sein.

Mit klammen Händen griff er nach dem Holz und zog sich am Stamm hoch. Sein Sichtfeld wurde von aussen her schwarz, die Ohren füllten sich mit Watte, bis ein Pfeifen erklang. Gerade als er aufgeben und sich wieder setzen wollte, klang es ab. Langsam erkannte er auch seine Umgebung wieder. Er hasste es, wenn er sich so schutzlos fühlte.

Arin sah sich um, entdeckte aber niemanden. Vereinzelt hörte er das Trällern eines Vogels, aber meist wurden die leisen Rufe vom Rauschen des Windes in den Baumkronen überdeckt. Seine Stirn wurde feucht vor Anstrengung. Er lehnte sich an den Baumstamm, griff mit den Händen an die harte Rinde und schloss die Augen.

Er ging in sich, suchte nach dem Summen seines Schlüssels, den die Krieger der Larhun nun bei sich trugen. Normalerweise spürte er die Schwingungen der magischen Gegenstände, jeder trug eine andere Melodie in sich. So lange wanderte er schon mit seinem Meisterstück herum, dass er das Singen so gut kannte wie den eigenen Körper. Es vibrierte in seinem Inneren. War es nicht da, fühlte er sich leer und nackt.

Und beim Vergessenen, dem alten Gott, an dessen richtigen Namen sich niemand erinnern konnte, wie leer er sich fühlte. Nicht einmal ein einziger Ton verriet ihm die Richtung, in die die Schattenmänner abgehauen waren. Plötzlich fühlte sich Arin hilflos, so klein und allein in dieser Welt. Bisher hatte er den Larhun immer wieder ein Schnippchen geschlagen, hatte sie verwirrt, zum Narren gehalten, um genau zu sein – und jetzt hatten sie ihn erwischt.

Der Druck in seinem Kopf nahm dermassen zu, dass sich die Übelkeit verstärkte und er den kümmerlichen Rest in seinem Magen beinahe von sich gegeben hätte. Sein Kopf ruhte am kühlen Holz, er schluckte.

Nachdem er kurz zu Bewusstsein gekommen war, hatte er sich hinter die ersten Baumreihen zurückgezogen. Falls er im Land der Kvor gelandet war, konnte es nur hinderlich sein, wenn sie ihn in diesem Zustand aufgriffen. Vor allem, weil er die lang ersehnte Nachricht nicht bei sich trug. Eine Strasse wie der Kiesweg, auf dem er verdroschen worden war, lud geradezu dazu ein, dort zu spazieren oder zur Arbeit zu gehen.

Er schluckte abermals, sein Hals schmerzte. Trotzdem wandte er den Kopf und versuchte, einen Blick auf die Umgebung zu erhaschen. Hinter seiner Stirn hämmerte es wieder lauter, doch er versuchte, es zu ignorieren, auch wenn ihn der rebellierende Magen hartnäckig darauf hinwies, wie beschissen es ihm ging.

Als er die Weite ausserhalb des Waldes sah, hielt er für einen Augenblick die Luft an. Sofort war das Elend vergessen, sein Mund klappte auf. Wie unglaublich weit der Blick schweifen konnte. Einen Moment liess er die Stimmung auf sich wirken und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Arin erblickte einen Hügel auf der Ebene vor dem Gebüsch, er musste sich also auf einer Anhöhe befinden. Nicht weit vom Baum schlängelte sich der Kiesweg zwischen grüner Wiese und dunklem Wald zu einem Dorf, aus dem Rufe und Gespräche bis zu ihm hallten, wenn er sich darauf konzentrierte. Doch bald wuchsen die Schmerzen wieder derart an, dass das Rauschen in den Ohren alle Umgebungsgeräusche übertönte. Wirklich etwas verstehen konnte er nicht.

Wenn er so nah an einem Dorf war, musste er sich erst einmal verstecken. Vielleicht fand er einen Ort, an dem er sich erholen und einen Schluck Wasser aus einem Bach trinken konnte. Noch wusste er zu wenig von diesem Teil Mra’Theels, an den ihn sein Schlüssel geführt hatte. Bevor er in eine Auseinandersetzung geriet, wollte er seinem Körper eine Pause gönnen. Und er brauchte einen Plan, wie er sich den Irin und den Kvor erklären konnte.

Arin schätzte, dass der späte Nachmittag schon angebrochen war. Das warme Licht der Sonne, das leicht orange wirkte, sprach dafür. Sein Magen knurrte jedenfalls, entnervt sah er sich um. Sofort pochte sein Kopf heftiger. Ganz verschwunden waren die Schmerzen nie, aber wenigstens waren sie vor der abrupten Bewegung erträglich gewesen. Vielleicht hätte er doch besser beim Dorf bleiben sollen? Bestimmt hätte er jemanden gefunden, der ihm geholfen hätte.

Aber er kannte die Gründe nur zu gut, weshalb er es nicht getan hatte. Als Bote der Irin war er einer der ranghöchsten Offiziere in ihrer Streitmacht. Es winkte ihm zwar ein guter Lohn, wenn er die Nachrichten überbrachte, aber gleichzeitig war er durch die brisanten Inhalte beliebtes Ziel von Intriganten und verfeindeten Völkern. Erst durch seine Tätigkeiten hatte er erfahren, was es hiess, zwischen den Fronten zu stehen, das Ziel eines jeden zu sein. Manchmal verfluchte er sein einsames Dasein. Niemandem durfte er vertrauen, jeder könnte sich irgendwann gegen ihn stellen.

Plötzlich erklang in seinem Herz das Lied eines magischen Schlüssels. Nicht summend und unterschwellig wie das des Schlüssels der Irin, sondern laut, durchdringend, einvernehmend. Der Gesang vibrierte so heftig in ihm, dass er mit der Hand an seine Brust griff und die Hände in sein Hemd krallte. Er stöhnte auf.

Für jemanden wie ihn, der es gewohnt war, auf die feinen Schwingungen zu achten, war das Lied des unbekannten Schlüssels wie die Sonne für einen Maulwurf, der aus dem Boden gezerrt wurde.

Er hätte ihn doch hören müssen, als er sich genähert hatte. Kein Gegenstand erschien einfach so aus dem Nichts. Doch genau danach fühlte es sich an, als wäre er vom einen Augenblick zum anderen da gewesen. Hätte der Schlüssel ein Tor passiert, hätte er die Macht des Tores doch gespürt. Aber dieses helle Lied erfüllte alles in ihm, selbst das Blut in seinen Adern rauschte im Takt der Musik durch den Körper, ohne ihm auch nur ein kleines bisschen zu verraten, woher der Schlüssel kam.

So intensiv hatte er seinen eigenen Schlüssel nie gespürt, auch wenn er ihn nah am Körper getragen hatte.

Seinen weichen Knien zum Trotz erhob er sich. Wenn er sich nicht täuschte, lag das Dorf, das er heute schon durch die Bäume hindurch gesehen hatte, dort, wo das Singen herkam.

Einen winzigen Moment fragte er sich, was wäre, wenn jemand einen Schlüssel geschmiedet hätte. Doch fast gleichzeitig schüttelte er den Kopf. Er war so tief in Gedanken versunken, dass er die Schmerzen nur am Rande wahrnahm.

Seit Jahrhunderten hatte niemand mehr einen magischen Schlüssel oder gar ein Tor hergestellt, vom Verfahren war nichts überliefert. Es war so gut wie unmöglich, einen Schlüssel zu schmieden. Dennoch war einer aus dem Nichts aufgetaucht.

Obwohl ihn jeder Schritt schmerzte und er wie ein alter Mann humpelte, machte er sich auf den Weg zurück zu der Stelle, an der er zusammengeschlagen worden war.

Bisher hatte er geglaubt, dass nur noch drei Schlüssel existierten. Seit er die Melodie desjenigen gehört hatte, den die Larhun nutzten, hatte er auch alle einmal gespürt.

Einen hatten die Irin, das hochgeborene Volk, ihm anvertraut, damit er seine Nachrichten schnell und zügig an die Kvor übermitteln konnte. Hin und wieder, wenn ihm unwohl war und er sich beobachtet fühlte, nahm er einen Umweg. Wenn man wusste, wie, konnte man die Schlüssel dazu bringen, selbst einen Weg zu wählen. Offenbar hatte es diesmal nichts gebracht, denn er war trotzdem brutal überfallen worden.

Den zweiten Schlüssel hatten die Krieger der Larhun mit sich getragen, als sie ihm aufgelauert hatten. Falls er so laut gesummt hätte, hätte Arin das gehört. Ausserdem klang er anders, feiner, als würde er vorsichtig fragen, ob er singen dürfte.

Arin schüttelte den Kopf und lehnte sich an einen Baumstamm. Gedankenverloren blickte er auf den Hügel etwas abseits des Dorfes. Von dort kam das Lied, noch immer hell, aber nicht mehr ganz so durchdringend. Vielleicht schützten sich seine Sinne auch selbst, indem sie nicht mehr so empfindsam reagierten.

Der dritte Schlüssel lag irgendwo tief in den Bergen Kvoras. Obwohl die Königin des kleinen Volkes darauf beharrte, dass sie wusste, wo sich das magische Artefakt befand und wie es zu benutzen war, glaubte Arin selbst nicht daran. Die Halle, in der sich nur ein Schlüssel und ein magisches Tor befanden, konnte nur über einen langen Weg in die Tiefen der Berge erreicht werden.

Arin schüttelte den Kopf. Wer nutzte die Möglichkeit nicht, sicher, schnell und bequem zu reisen, wenn er die Gelegenheit dazu hatte?

Das Lied schwoll wieder an, aus einem starken, gurgelnden Bach wurde ein reissender Strom, so betäubend, dass sich Arin intuitiv die Ohren zuhielt, auch wenn er die Töne in seinem Herzen und nicht mit den Ohren hörte. Zweifellos stand jemand mit dem magischen Artefakt vor einem Tor und war im Begriff, dieses zu öffnen. Der Durchgang rief ihn, er machte einen Schritt darauf zu.

Die Melodie verstummte abrupt.

Blinzelnd versuchte Arin, das eben Erlebte in einen Zusammenhang mit seinem Wissen über die Schlüssel zu bringen, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Die Irin hatten immer wieder betont, dass sie im Besitz des mächtigsten noch existierenden Schlüssels waren.

Vielleicht hatte er sich den Gesang in seiner Erschöpfung auch nur eingebildet? Ein Trugbild seiner schwindenden Sinne?

Wie gern hätte er der aufkeimenden Hoffnung Glauben geschenkt, doch er zweifelte zu sehr, um sich verleiten zu lassen.

Arin schrak aus seinem Dämmerschlaf hoch. Verwirrt sah er sich um. Nur langsam fiel ihm wieder ein, wo er sich befand: in einem Wald nahe eines ihm unbekannten Dorfes. Auch wenn sich sein Magen vor Hunger grummelnd zusammenzog, ging es ihm schon wesentlich besser als noch am Nachmittag. Wenigstens war ihm nicht mehr derart übel, dass er sich jeden Augenblick übergeben wollte.

Trotzdem fühlte er sich ungewohnt rastlos. Als er sich am Nachmittag neben den Stein gesetzt hatte, hatte ihn die Gewissheit beruhigt, dass er jetzt sowieso nichts an seiner Situation ändern konnte. Den Larhun war er nicht gewachsen, sein Körper benötigte erst einmal Ruhe, um sich wegen der Verletzungen zu regenieren, und weder die Irin noch die Kvor würden in den nächsten Tagen Spione oder Häscher nach ihm ausschicken, um den vermeintlichen Verräter zu stellen.

Irgendetwas, ganz nahe und doch weit weg im Land der Träume, beunruhigte ihn. Etwas nagte an seinem Bewusstsein.

Ein Schrei! Ein durchdringender Schrei hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Angestrengt lauschte er in den Wald hinein, doch mehr als einige unterdrückte Flüche und ein Lachen aus tiefster Männerkehle konnte er nicht hören.

War es wirklich der Schrei einer Frau gewesen, der ihn geweckt hatte? Hätte er sie nicht wieder hören müssen, wenn das Gerangel auf dem Kiesweg ein ausgewachsener Streit gewesen wäre?

Ein Rascheln durchdrang die Stille, Schritte entfernten sich, bis es irgendwann wieder still wurde. Die Auseinandersetzung war offensichtlich vorbei.

Obwohl sein Körper rebellierte, versuchte, ihn zu warnen, näherte er sich leise dem Ort des Geschehens. Vielleicht entdeckte er ja noch Spuren davon, was gerade Anlass des Streits gewesen war. Auch wenn er sich besser um den magischen Schlüssel gekümmert hätte, wollte er sichergehen, dass keine Frau zu Schaden gekommen war. Das Geschenk der Göttlichkeit durfte nicht mit Füssen getreten werden.

Zweimal musste er eine kurze Pause einlegen und sich an einem Baumstamm abstützen. So kraftlos fühlte er sich sonst nicht, an zitternde Beine hatte er bisher noch nie gedacht. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Lag es nur am Schlag, der ihn niedergestreckt hatte?

Dabei wusste Arin nur zu gut, dass die Krieger der Larhun keine Gnade kannten, wenn sie ihr Opfer gefunden hatten. Dass er überhaupt überlebt hatte, grenzte schon an ein Wunder. Er konnte von Glück sprechen, dass er noch bei klarem Verstand war.

Wenn er es denn war.

Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen. Falls er nicht bei klarem Verstand war, es aber dachte, konnte er kein Problem erkennen.

Schwer atmend hielt er inne, sobald er den Kiesweg vor sich überblicken konnte. Nichts deutete auf einen Angriff oder ein Handgemenge hin. Die Welt brauchte einige ruhige Momente, um sich nicht mehr zu drehen.

Mit einem Stöhnen setzte er sich neben einen Stein, lehnte sich gegen die warme Oberfläche. Obwohl die Sonne die Luft noch spürbar erwärmte, fröstelte es ihn. Er schlang die Arme enger um seine Knie, zog sie zu sich und legte den Kopf darauf. Hier konnte er bleiben, bis die Dämmerung ihm ein wenig Schutz bot.

Irgendwann jedoch würde sich die Nacht über das Dorf legen, das er manchmal zwischen den Baumstämmen hindurch erahnen konnte. Bestimmt würden die Kvor bis dahin schon nervös Däumchen drehen und Seylani und Doana um Rat bitten. Die Kvor erwarteten die Antwort der Königin der Irin bis heute Abend. Nun lag die gut geschützte Nachricht in den Händen der Larhun. Arin blieb nur die Hoffnung, dass die dummen Männer es nicht schafften, die Rolle zu öffnen, und diese war gross, so intelligent waren die Larhun nun auch wieder nicht. Nur gross und stark und Furcht einflössend.

Aber auch wenn sie nicht an die Nachricht gelangen konnten, war sein Schicksal besiegelt. Er hatte sie verloren, etwas anderes zählte bei den Irin nicht. Ob er die wertvolle Rolle freiwillig oder unfreiwillig abgegeben hatte, wurde als dasselbe Vergehen geahndet. In den Augen der Hochgeborenen hatte er sie verraten.

Arin schloss die Augen und versuchte, die bitter aufsteigende Verzweiflung hinunterzuschlucken. Er musste unbedingt zu seinem Meister zurück. Vielleicht fiel diesem ein Ausweg aus der verfahrenen Situation ein. Wenn er den Irin nicht bald seinen – ihren – Schlüssel zurückbrachte und die verschollene Nachricht wieder in die Finger bekam, würden sie ihm die Hölle heiss machen.

Angst 

TINDRA

 

Bei jedem Schritt schlug sie mit dem Oberkörper gegen den Rücken des Soldaten, der doppelt so breit war wie sie. Tindra wusste nicht, wie ihr geschah, weshalb die Krieger sie und Sunyu aufgegriffen hatten. Nur ein Alarmglöckchen im Hinterkopf erinnerte sie daran, dass es vermutlich einen Zusammenhang zwischen dem Schlüssel und diesem Angriff gab, doch sie wollte es nicht wahrhaben.

Die Männer schleiften Sunyu schonungslos hinter sich her. Seine Fussfesseln waren so eng, dass er ständig stolperte und auf die Knie fiel. Rücksichtslos zerrten die Männer ihn wieder auf die Beine. Hin und wieder stöhnte er gequält auf, seine Hose färbte sich über einem Knie dunkelrot. Sie war sicher, dass er die Umgebung nur noch durch einen Schleier wahrnahm. Sein Kiefer schwoll an, am Mundwinkel trocknete das bisschen Blut, das zwischen seinen Lippen herausgeflossen war.

Als könnte ihn nichts stoppen, hatte er unter den Angreifern gewütet. Nach Kräften hatte er sich gewehrt, hatte die Männer mehrmals überrascht und dann doch verloren. Niemand hatte seine Attacken vorausgesehen oder gar erwartet, dass sich ein einfacher Mensch aus Erendal so zur Wehr setzen konnte. Ihr war der Mund vor Staunen offen gestanden. Erst der Schlag mit einem Schwertknauf auf den Hinterkopf hatte das Blatt gewendet.

Tindra hatte sich nicht gewehrt – die Männer hatten ihr einfach das Schwert aus der Hand genommen und sie in Fesseln gelegt. Sie war wie gelähmt gewesen, die Angst hatte sie zittern lassen. Kein vernünftiger Gedanke hatte sich in ihrem Kopf geformt, nicht einmal die Füsse hatten sich umgedreht und waren davongerannt. Beschämt wandte sie ihren Blick ab. Wie feige, wie unglaublich feige sie war.

Der unebene Waldboden bereitete den Kriegern kaum Mühe, obwohl kein Weg zu erkennen war. Immer wieder umrundeten sie einen Stein oder sprangen, mit ihr auf der Schulter, über ein wildes Bachbett. Nur Sunyu quälte sich mühsam durchs schäumende Wasser.

Von den ungezähmten Fluten war in Steinwacht nichts mehr zu sehen, obwohl die Wassermassen auf das Dorf zuhielten. Jeder einzelne Tropfen versickerte und trat unterirdisch in den Rem, der am unteren Ende des Dorfes entsprang. Er war breit, schmutzig und träge. Lieber hätte Tindra einen Fluss weniger, dafür zwanzig Bäche mehr gehabt. Sie mochte das Plätschern und Schäumen der Wellen, die kühle Melodie, die sie in die Welt hinaus sangen, wie sie das Leben priesen.

Bei jedem Bach machten sich die Krieger einen Spass daraus, Sunyu beim Kampf gegen die Wassermassen zu beobachten. Unverschämt grinsend wetteten sie. Wer verlor, fluchte.

Als die Strömung Sunyu von den Füssen riss, lachten sie noch lauter. Sein Kopf verschwand im wilden Wasser, das Seil, an dem einer der Krieger ihn führte, zerschnitt die Wasseroberfläche in einem Zickzackweg.

Tindra wollte die Luft anhalten, trotzdem entwich ihr ein erstickter Schrei am Knebel vorbei. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus, dann hämmerte es hart gegen ihren Brustkorb. Es schnitt ihr den Atem ab, heiss glühte die Angst in ihrer Brust. Ihre gefesselten Fäuste trommelten im selben Takt auf den Rücken des Larhun. Sie wand sich unter dem erbarmungslosen Griff, wollte am Seil ziehen, das an Sunyus Handgelenken festgezurrt war, doch der Hüne hielt sie fest, als wäre sie nicht mehr als eine Fliege, die auf seinen ungepflegten Zottelhaaren herumlief.

Endlich hob der Anführer der Larhun die Hand. Gleichgültig wandte er sich ab und setzte seinen Weg fort, während zwei der Krieger dem jungen Schmied aus den Fluten halfen, indem sie am Seil zogen. Mit zitternden Armen zog sich Sunyu ans Ufer. Er hustete, erbrach dem Larhun Wasser und sein Mittagessen vor die Füsse, hustete wieder. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund, sein Atem ging pfeifend. Hasserfüllt hob er den Blick und funkelte Tindra an, als hätte sie ihn ins Wasser gestossen.

Vor dem nächsten, immerhin trockenen Bachbett hielten die Männer an und warteten auf Sunyu und seinen Wächter, der ihn mit schadenfrohem Gesicht vor sich hertrieb. Sobald der junge Schmied innehielt, bedrohte er ihn mit einem Messer, das er im Sonnenlicht aufblitzen liess.

Tindra hatte nicht das Gefühl, dass Sunyu danach wirklich schneller ging. Trotzdem war sie froh, dass niemand damit gedroht hatte, sie umzubringen, sollte er sich nicht beeilen. Wie er sich entschieden hätte, war kein Rätsel. Bestimmt hätte er beim Schnitt durch ihre Kehle grinsend zugesehen. Sunyu hätte gelacht und freudig miterlebt, wie sie ihren Kopf verlor.

Es war eine Schande, dass sie sich so um ihn sorgte.

Die Männer setzten sich wieder in Bewegung. Anstatt wie bisher weiter auf gleicher Höhe zu bleiben, folgten sie dem ausgetrockneten Bach den Hügel hinauf.

Nach einer Weile hob der Mann, der sie trug, sie von seiner Schulter. Sie wollte schreien, doch durch den Knebel brachte sie nur ein klägliches Murmeln zustande. Lachend legte er sie auf die andere Schulter und tätschelte ihr den Allerwertesten. »Keine Angst, Süsse, ich lasse dich nicht fallen.«

Als ob sie deswegen Angst hätte.

Der Anführer – Bram nannten sie ihn – schnellte zu ihm herum. »Wenn du sie anfasst, wirst du das Wunder der Seylani erleben!«, zischte er.

Der Mann zuckte zusammen und grummelte etwas Unverständliches in seinen Bart hinein, ein weiterer Klaps folgte aber nicht.

Tindra schloss die Augen. Das musste alles ein schrecklicher, böser Traum sein. Unmöglich, dass sie einen Schlüssel erschaffen hatte und deswegen angegriffen wurde. Sie dachte an das Bild der Doana, deren weiches Lächeln sie immer aufgemuntert hatte. Die Göttin mit den freundlichen Augen, obwohl sie als Herrscherin der Nacht und des Todes gefürchtet wurde.

Doch der Tod musste einem keine Angst bereiten, es war ein Schritt im Leben, wie der erste Schrei nach dem Eintritt in diese Welt auch. Überall starb etwas oder jemand, damit das Leben an anderer Stelle weitergehen konnte.

Tindra seufzte. Doana hatte sie einmal gerufen, hatte sie in einem Traum besucht. Sie hatten lange diskutiert und Milch mit Honig getrunken. Die Göttin hatte sie in die Priesterschaft rufen wollen. Doana hatte gesagt, sie sei eine von wenigen, die die richtige Bedeutung der Nacht und des Todes verstehe. Es war nicht nur ein Ende, sondern ein Neuanfang, und im Gegensatz zu Seylani, die als Göttin der Liebe und des Tages verehrt wurde, versprach Doana mit dem Neuanfang auch das Vergessen des Alten, des Vergangenen – der Sorgen, des Hasses, der Trauer. Sie versprach einen Neuanfang, wie ihn sich Tindra immer gewünscht hatte.

Tindra hatte das Angebot abgelehnt, obwohl es eine grosse Ehre war, in den Bund der Schwestern einzutreten. Seither fühlte sie sich der dunklen Göttin noch mehr verbunden, Seylani spielte in ihrem Alltag keine Rolle mehr. Doana, die Schwarze, war ihre Göttin.

Manchmal hatte sie noch mit ihrer Entscheidung gehadert, doch es hatte sich in diesem Moment einfach richtig angefühlt. Und seit sie in der Schmiede arbeitete, ging es ihr wieder besser. Die nagenden Fragen suchten sie nur noch selten heim, das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, verstärkte sich.

Und nun lag sie gefesselt und geknebelt über der Schulter eines Riesen. Das wäre ihr im Dienst der Göttin bestimmt nicht passiert.

Die Männer entfernten sich etwas vom Bachbett und hielten auf eine Ansammlung von Steinen und Felsen zu. Bram nickte zwei Männern zu und wartete, bis diese das Laub zur Seite gewischt hatten. Darunter kam eine primitive Tür aus Holzlatten zum Vorschein, die er öffnen liess und als Erster in die Höhle hinabstieg. Der Mann mit ihr über der Schulter folgte ihm, anschliessend ein Krieger und Sunyu mit seinem Wächter. Den Schluss bildeten zwei, die den Zugang wieder tarnten.

Im spärlichen Licht sah sich Tindra um, konnte aber nur die umherhuschenden Schatten der Soldaten erkennen.

»Nun denn, dann wollen wir mal wieder nach Hause.«

Gerade als sich Tindra fragte, wo das Zuhause dieser Männer lag, brachte Bram eine Kette mit einem Schlüssel daran zum Vorschein.

Sie riss ihre Augen auf. Ein Schlüssel! Als Bram ihn berührte, verschwand er vor ihren Augen hinter einer dichten Nebelwand, die sich in feste Luft zu verwandeln schien. Die Krieger griffen sich an den Händen, einer krallte seine Finger in Sunyus Schulter, sodass dieser scharf Luft holte und in die Knie ging. Die Männer lachten.

»Bastard.«

Bastard?

Tindra wandte ihren Blick Sunyu zu, wollte in seinen Augen nach der Antwort auf ihre unausgesprochene Frage suchen. Im selben Augenblick verlor die Umgebung alle Farbe, nur ein Leuchten von dort, wo Bram verschwunden war, erhellte die konturenlose Umgebung. Ein eisiger Wind kam auf, ohne dass sich die Luft bewegte. Ihr Kopf schnellte herum. Bram stand vor ihr, ihre Reaktion mit einem stolzen Lächeln beobachtend.

»So sieht der Weg in die Reiche der Larhun aus.«