Prolog
Es ist nur eine Flamme.
Seit ich das blutrote Feuer auf seinen Schultern, in seinen Augen gesehen habe, versuche ich mir das einzureden. Nur eine Flamme. Doch sie bedeutet so viel. Dass er ihrem Volk angehört und mich belogen hat. Sie erklärt den Hass, die Abneigung in seinen Augen. All die Wut in seinen Bewegungen.
Doch sie schweigt darüber, weshalb ich so viel nachdenke – über ihn, über sein Feuer und sein Leben. Ich habe gesehen, was er in seiner Kindheit erlebt hat. Noch jetzt muss ich leer schlucken, um nicht zu weinen. Ob sein Zorn allein im Tod seiner Mutter begründet liegt?
Ich möchte hinter seine Fassade blicken, ihn kennenlernen, ihm sagen, wie dankbar ich bin – glücklich. Doch meine Wünsche verwirren mich, denn er ist ein Arschloch und die Dunkelheit in seinen Augen macht mir Angst. Es ist keine seelenlose Dunkelheit, kein abgrundtiefes Loch – es ist eine leuchtende Schwärze. Ein unheilvolles Glühen. Es brennt in ihm und verzehrt ihn von innen. Die Dunkelheit erinnert mich an das Feuer, das zwischen seinen Fingern aufflackert und mich das Fürchten lehrt.
Es macht mir Angst.
Er macht mir Angst.
Nicht seine Blicke oder die unreife Art, sondern der Hass, der ihn von innen zerfrisst. Vielleicht ist das die brennende Schwärze seiner Augen. Doch ich fürchte, dass noch viel mehr dahintersteckt.
Er sieht keine Schönheit mehr, hat keinen Grund zum Leben. Noch stolpert er von Tag zu Tag, von Nacht zu Nacht, und sein Glück entwischt immer. Irgendwann wird er einfach nicht mehr aufstehen, denn Hass ist kein Grund, um sich zu erheben.
Ich habe Angst um ihn. Und das macht mir noch mehr Angst.
Das Einzige, das ich für ihn tun kann, ist, Doana um einen Neuanfang für ihn zu bitten. Sein nächstes Leben soll ein schönes werden.
Abschied
TINDRA
Die Sonne wärmte ihr Gesicht und kitzelte sie in der Nase, als Tindra in den herbstfeuchten Morgen trat. Staunend hielt sie in der Bewegung inne, als sie sich streckte, und beobachtete, wie der frische Wind über die Hügel strich. Das Gras wogte mit einem leisen Rauschen, schluckte, reflektierte und brach das morgendliche Licht.
In diesen ersten Sonnenstrahlen hatte sie Steinwacht noch nie gesehen. Vielleicht lag es daran, dass ihr letzter Tag hier angebrochen war. Sie würde erst wieder zurückkehren, wenn ihre Eltern – insbesondere ihre Mutter – nicht mehr hier lebten.
Ihre Mutter hatte sie verstossen, da sie Freiwild war – eine Frau, die das von den Göttinnen gegebene Geburtsrecht abgelehnt hatte. Obwohl sich Tindra des Risikos bewusst gewesen war, hatte sie nach dem Schwert gegriffen und sich verteidigt. Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Nun stand sie in der Gesellschaftsordnung sogar unter den Männern, die tagein, tagaus durch die Minen hinter Steinwacht wanderten und ungeschliffene, staubige Rubine zutage förderten.
Ein jeder konnte mit ihr machen, was er wollte. Für sie galten keine Gesetze, kein Gericht konnte über sie urteilen. Sie durfte sich nur wehren – und das würde sie auch tun.
Als Arin aus dem Haus ihrer Schwester trat, näherten sich seine Schritte. Für diese eine Nacht hatten sie bei ihr Unterschlupf gefunden. Der Blick des dunkelblonden Boten wanderte wie der ihre über die in morgendliche Stille gehüllte Landschaft. »Bereit?«
Einen Moment nahm sich Tindra, ehe sie bestimmt nickte und sich mit einem schiefen Lächeln zu ihm umdrehte. Arin betrachtete sie mit einem Blick aus sanften blauen Augen, den sie nicht so recht deuten konnte, aber froh darum war. Wenigstens er nahm sie für voll. Ungeduldig wischte sie sich über die Wangen, als der Schmerz über den Abschied in ihrer Brust aufglühte. »Verdammt«, fluchte sie leise.
Nur einen Moment zögerte Arin, dann legte er die Arme tröstend um sie und drückte sie an sich. »Es ist nicht leicht, sein Zuhause gehen zu lassen«, murmelte er an ihrem Kopf.
Seine Worte und die Wärme seines Körpers liessen sie tief einatmen, ein wenig entspannen. Dennoch wusste sie, dass sie sich nicht für immer hinter seinen Armen verstecken konnte. Dafür ging man in Mra’Theel zu hart mit Frauen wie ihr um. Entschieden schob sie ihn von sich weg.
Warum fühlte sie sich dennoch so elend? Sie versuchte sich an ihrem zweiten Lächeln heute, doch wie das erste wollte es ihr nicht so recht gelingen. »Steinwacht ist nicht mein Zuhause.« Auch wenn sie die letzten Jahre hier gelebt hatte, wirklich wohlgefühlt hatte sie sich nie. Um ihm keinen weiteren Grund zur Sorge zu geben, wandte sie sich von ihm ab.
Trotz Müdigkeit hatte sie nach dem gestrigen Dorffest kaum geschlafen. Immer wieder sah sie Sunyu vor sich, wie er sie betrachtete. Dunkle Augen, in denen ein Feuer glühte, die Intensität, mit der er sie angesehen hatte, sodass ihr heiss und kalt zugleich wurde. Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Eine Mischung aus Überraschung, Bewunderung und Unsicherheit, vielleicht auch ein wenig Trauer war ihr entgegengeschwappt, und sie hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sich an ihm vorbeizuschleichen. Vielleicht ahnte er, dass sie nicht hierbleiben konnte, immerhin wusste er um die konservative Haltung ihrer Mutter.
Am liebsten wäre sie zu ihm nach Hause gegangen und hätte ihn gefragt. Bei Tageslicht grummelte die Angst nicht ganz so stark. Doch nachdem der eben erst ausgebildete Schmied sie selbst von sich gestossen hatte, als sie ihn aus den Reichen der Larhun befreit hatte, konnte sie bei ihm nicht auf ein offenes Ohr hoffen. Er würde sie höchstens auslachen. Sie war doch nur Freiwild. Niemand, dem man Respekt schuldete.
Freiwild … Wie sehr sie dieses Wort hasste.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, hatte sie sich heute Morgen nicht in ein Kleid gezwängt, wie es sich für eine Frau gehörte, sondern eine ärmellose, oberschenkellange Tunika übergezogen. Darunter trug sie ein Hemd und Hosen. So war auf den ersten Blick klar, was sie war. Keine normale Frau trug Hosen. Niemand würde das Schwert an ihrer Hüfte übersehen. Jeder sollte auf den ersten Blick erkennen, was sie war – und gewarnt sein. Doch auch ohne sichtbare Zeichen wusste jeder mit festem Glauben an Doana und Seylani, dass sie das Geschenk der Göttinnen nicht mehr bewahrte.
Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. Sie kannte einen guten Schmied in der Nähe, der ihr bestimmt eine Waffe empfehlen konnte.
Als Tindra und Arin schwer beladen vor dem geschlossenen Eingangstor der Schmiede standen, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Vielleicht hätte sie sich besser aus dem Staub machen sollen, ohne sich zu verabschieden. Insgeheim wusste sie, dass es richtig war, ihrem Lehrmeister Lebewohl zu sagen, doch das machte es nicht einfacher.
Sie hasste Abschiede. Ihr ganzes Leben lang hatte sie von Freunden und Orten Abschied nehmen müssen, alles war gekommen und wieder gegangen. Auch wenn sie Steinwacht nicht mochte, hatte sie an keinem anderen Ort der Welt so viel Zeit verbracht. Endlich lebten ihre Eltern an einem Ort, an dem sie blieben. Diesen nun wieder zu verlassen, fiel ihr deutlich schwerer als erwartet.
Nach einem Seitenblick zu Arin klopfte sie an. Rasch näherten sich schwere Schritte und das Tor wurde von innen geöffnet.
Der breit gebaute Schmied wirkte müde und erschöpft, doch als er Tindra erkannte, hellten sich seine Augen auf. Ein breites Grinsen zeigte sich auf Juangs Gesicht. Er breitete die Arme aus, um sie an sich zu drücken, und schnitt ihr damit die Luft ab. Ihr Brustkorb schmerzte, doch sie liess es geschehen. Dankbar sog sie den scharfen Geruch ihres Lehrmeisters ein. Für eine lange Zeit würde es das letzte Mal sein, dass sie ihn sah, wenn nicht gar für immer.
»Tindra, mein Mädchen«, murmelte er an ihrem Haar, ehe er sie losliess.
Peinlich berührt von seiner Zuneigung senkte Tindra den Kopf. Sie hatte nicht einmal geahnt, wie sehr sie ihm ans Herz gewachsen war, seit sie im Sommer die Ausbildung begonnen hatte. Dass er seine Gefühle nun so offen zeigte, ehrte sie – und drehte schmerzlich die Speerspitze in ihrer Brust, die sich gestern Abend eingenistet hatte, als ihre Mutter sie aus dem Haus verwiesen hatte. Sie würde von hier verschwinden, musste ihn verlassen.
Als sie den Blick wieder hob, wischte sich Juang über die Augen und verschmierte damit Russ auf seiner ledrigen Haut. Sie wagte ein schwaches Lächeln.
»Ich habe mir Sorgen gemacht. Und Vorwürfe! Bei Seylani, ich habe mir solche Vorwürfe gemacht.« Fassungslos schüttelte er den Kopf, erwiderte ihr Lächeln jedoch.
Tindra schluckte und wandte den Blick ab. »Es ist alles gut«, log sie, um ihren Lehrmeister zu beruhigen. Doch für sie war nichts gut, ihre Mutter hatte sie verstossen. »Ist Sunyu da?«
Juang kratzte sich am Kopf und bat sie in den Hof, indem er zur Seite trat und in Richtung des Steintisches nickte. »Er ist mit dir verschwunden, seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. Das ganze Dorf hat von nichts anderem mehr gesprochen. Sie haben Sunyu Vergehen angedichtet …« Er schüttelte den Kopf abermals, als könnte er nicht glauben, dass sein Schützling ihr auch nur ein Haar krümmen würde.
Tindra wusste genau, was er damit sagen wollte. Zu viele Leute hatten sie am Fest darauf angesprochen. »Er hat mir nichts getan«, versicherte sie ihm mit einem ehrlichen, offenen Lächeln und nahm Platz.
Der Schmiedemeister warf die Stirn in Falten, als er sie musterte. Offenbar fiel ihm erst jetzt auf, dass sie sich nicht der Norm entsprechend gekleidet hatte. Wie bei den meisten anderen auch blieb sein Blick einen Moment länger als nötig an ihrem Schwert hängen. Doch im Gegensatz zu ihnen sah er ihr direkt in die Augen und statt Erstaunen oder Unglaube zeigte sich tiefer Schmerz in seinen Gesichtszügen. Seine Schultern sackten zusammen und mit dem Ausatmen verlor Juang seine Körperspannung, die ihn so beeindruckend machte. »Es tut mir so leid.«
Dankbar nickte Tindra. Dass er ihr keine stummen Vorwürfe machte, es hinnahm und sie dennoch als sein kleines Mädchen sah, liess das Zittern erst gar nicht aufkommen. Wenn ihr Gegenüber sie mit diesem abfälligen Blick musterte, abwog, was möglich war und was nicht, befiel sie eine innere Unruhe.
»Meine Mutter hat mich verstossen. Ich kann nicht hierbleiben. Deshalb werde ich Arin auf seinen Reisen begleiten.« Tindra warf dem Boten einen flüchtigen Seitenblick zu.
Juang musterte Arin nur einen Moment, ehe er sich wieder Tindra zuwandte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass seine Augen jemals so hoffnungslos gewesen waren wie in diesem Moment. »Du gehst?«
Sie nickte.
Zitternd holte er tief Luft, dann setzte er sich auf die Bank. »Und Sunyu wird zurückkehren?«
Tindra lächelte erleichtert. Wenigstens in diesem Punkt musste sie ihren Lehrmeister nicht enttäuschen. »Er ist mit uns hierhergekommen. Ich denke, er wird sich morgen pünktlich zur Arbeit melden.«
»Mit euch?« Sein Blick streifte Arin erneut.
Tindra nickte, ehe sie die Geschehnisse der vergangenen Tage zusammenfasste. »Nachdem du uns nach Hause geschickt hast, haben uns Schattenkrieger aufgelauert und durch ein magisches Tor gebracht. Sunyu ermöglichte mir die Flucht, doch er blieb in den Nebelreichen zurück. Ich wäre nicht mit mir selbst im Reinen gewesen, hätte ich ihn in Grimsvik versauern lassen. Ich musste einfach versuchen, ihn zu retten. Also haben wir uns auf den Weg gemacht und ihn befreit. Mit seiner Hilfe« – Tindras Blick huschte rasch zu dem feinen Gesicht des Boten – »habe ich ihn gefunden, und wir konnten fliehen.«
Arin hatte ihr das Versprechen abgenommen, dass sie niemandem den Grund für seine Hilfe verriet. Wenn die Irin oder Kvor erfahren würden, dass er eine wichtige Nachricht verloren hatte, würden sie nach ihm suchen und ihn nicht ungeschoren davonkommen lassen. Deshalb hielt er es für besser, wenn niemand davon wusste.
Der Schmiedemeister kratzte sich seinen ergrauenden Bart, schien etwas sagen zu wollen, nickte dann jedoch nur. Noch einmal betrachtete er Tindras Schwert, bevor er aufstand und für einige Augenblicke im Rüstungsraum hinter der Schmiede verschwand. Als er wieder zu ihnen trat, trug er ein Schwert in der Hand. Im Gegensatz zu der Waffe an ihrer Hüfte wirkte es geradezu filigran, wenn nicht gar zerbrechlich, und es war deutlich länger.
Staunend stand sie auf und legte die Hand auf das Schmuckstück. Das Heft wies feine Verzierungen auf, die nur ein wahrer Meister aus dem Metall zu formen vermochte. Diese Klinge hatte sie nie im Fundus ihres Lehrmeisters entdeckt. Er musste sie an einem ganz speziellen Ort aufbewahrt haben.
Juang nickte in Richtung ihres Schwertes. »Eine Schmiedin sollte nicht mit einer minderwertigen Waffe durch die Gegend spazieren.« Er zwang sich zu einem schiefen Lächeln, wandte den Blick ab und starrte an ihrem Kopf vorbei auf die Mauer hinter ihr.
Als sich Tindra abwandte, schmerzte ihr Herz bei jedem Schlag. Schon heute Morgen, als sie ihrer Schwester Lebewohl gesagt hatte, hatte sich in ihrem Leben ein tiefer Riss aufgetan. Nun verliess sie den einzigen Platz in Steinwacht, den sie liebte. Hier war sie aufgeblüht und hatte ein Kunstwerk erschaffen: Einen Schlüssel mit magischen Fähigkeiten und Verzierungen, die so filigran waren, dass es aussah, als würden sie ineinander verschmelzen.
Wenn sie die Schmiede verliess, liess sie auch den einzigen Menschen hinter sich, der sie mit ihrer Liebe zu Metallen so akzeptierte, wie sie war. Dabei ging es um so viel mehr als nur ums Schmieden: die Weltanschauung, die Suche nach ihrem Platz in Mra’Theel, das Meiden von Menschenansammlungen und Getratsche. Nicht einmal Arin ging so natürlich mit ihrer speziellen Art um wie Juang.
»Pass auf dich auf, mein Mädchen.«
Tindra sah den Schmerz über ihren Verlust in seinen Augen glitzern. Schon länger hegte sie den Verdacht, dass Juangs Lehrlinge ihm aufgrund der eigenen Kinderlosigkeit so sehr ans Herz gewachsen waren, dass er sie wie seine eigenen behandelte. Sich von ihm verabschieden zu müssen, liess ihr Herz schwer in einem langsamen Takt schlagen.
Vor der das Anwesen umgebenden Mauer ertönten aufgeregte Stimmen. Tindra wandte den Kopf zum Tor, das im selben Moment aufschwang und gegen die Mauersteine knallte, obwohl es sich nur träge öffnen liess – in der Regel.
»Juang, sie sind unterwegs. Wir müssen …« Liang, Sunyus bester Freund, hielt inne, als er Tindra und Arin bemerkte.
Ihre Blicke kreuzten sich und Tindra zuckte innerlich zusammen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie ihn angehimmelt, ganz am Anfang, als sie in Steinwacht angekommen war – neben dem Jungen mit den haselnussbraunen Augen, den sie zu lange nicht mehr wiedergesehen hatte. Doch das war vorbei. Dennoch reagierte sie noch immer auf diese dunklen, mandelförmigen Augen, die stets ein verwegenes Lächeln zu umspielen schien. Nun wirkte er ungewohnt ernst, die Augenbrauen waren so stark zusammengezogen, dass sie sich über der Nasenwurzel berührten.
Zu gern hätte Tindra in seinem grimmigen Gesicht gelesen, doch Liang überraschte sie, als er sich an sie wandte. »Was machst du denn hier? Und was soll diese Aufmachung?« Als müsste er seine Worte erklären, schweifte sein Blick einmal von oben nach unten und wieder zurück.
Sie stellte sich gerade hin und reckte das Kinn. »Wir gehen schon«, sagte sie und wandte sich an Arin, der ihrem Beispiel folgte. Vor den Augen aller Anwesenden befestigte sie das Schwert, das sie von Juang erhalten hatte, an ihrem Gürtel.
»So war das doch nicht gemeint«, beeilte sich Liang nach dem Schreck zu sagen. »Ich meinte nur …« Er schluckte.
Liang hatte sie in den letzten Jahren beinahe ebenso mies behandelt wie Sunyu, deshalb genoss sie es gar ein wenig, wie er mit sich rang.
»Du bist Freiwild?« Das waren bestimmt nicht die diplomatischen Worte, nach denen er gesucht hatte, dennoch schien ihm ein Stein vom Herzen zu fallen.
Tindra nickte mit einem Lächeln, das selbstsicherer wirkte, als sie sich fühlte. »Und stolz darauf«, entgegnete sie, auch wenn es nicht stimmte.
Einen Wimpernschlag brauchten seine Gesichtszüge, bis sie ihm vollends entglitten. »Aber ich habe gestern mit dir getanzt.«
Allein die Tatsache, dass er sie aufgefordert und mit unsicheren Schritten über die Tanzfläche geführt hatte, rückte die Zeit seit dem Schulabschluss in ein neues Licht. Vielleicht war sie noch die Neue in Steinwacht, aber sie war nicht mehr Ziel aller Gehässigkeiten. Dass sich nun einige auch noch für sie zu interessieren schienen, überforderte sie ein wenig.
Vielleicht hätte sie sich Steinwacht gegenüber offener zeigen sollen, dann wäre sie auch aufgenommen worden. Doch das war nun nicht mehr von Belang. Das Dorf war für sie Vergangenheit.
Seine Verwirrung liess ihr Grinsen nur noch breiter werden. »Jetzt kannst du im ganzen Dorf damit prahlen, dass du mit Freiwild getanzt hast.« Hoch erhobenen Hauptes schritt sie an ihm vorbei und genoss sein Entsetzen. Man rühmte sich nicht damit, Freiwild den Abend verschönert zu haben. Ob seine Bestürzung an der Tatsache lag, dass er mit Freiwild getanzt hatte oder dass er das nicht bemerkt hatte, konnte sie nicht erkennen. Dennoch verschaffte es ihr so etwas wie Genugtuung.
Als sie schon beim Tor angelangt waren, hörte sie Liangs Räuspern. »Warte.«
Überrascht hielt Tindra inne. Damit hatte sie bei Doana und Seylani nicht gerechnet. Liang, neben Sunyu der grosse Schwarm des Dorfes, hatte sie tatsächlich darum gebeten, zu warten? Langsam drehte sie sich zu ihm um. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, also schwieg sie.
»Bist du gut?« Er nickte in Richtung ihrer Schwerter.
Tindra zog die Augenbrauen zusammen. Was sollte sie auf diese Frage antworten, da sie bis vor wenigen Tagen kaum einem Schwerthieb hatte ausweichen können? »Gut genug.«
Er warf einen Blick zu Juang, einen nächsten durch das Tor, dann trat er auf sie zu und fixierte sie mit schmalen Augen. »Die Männer aus dem Osten sind unterwegs. Wenn sie uns angreifen … Gegen diese Bastarde können wir jede Hilfe gebrauchen.« Bei seinen Worten ballte er die Hände zu Fäusten und trat mit jedem Wort einen Schritt auf Juang zu.
Auch wenn sich bei dem Wort Bastard ein Knoten in ihrem Magen bildete, versuchte sich Tindra auf den Inhalt von Liangs Worten zu konzentrieren.
»Was ist denn los?«, erwiderte Juang müde und trat mit grimmigem Ausdruck näher. »Geht es schon wieder um die Angriffe? Begreift ihr denn noch immer nicht, dass uns die Drachentürme der Irin schützen?«
Tindra hatte schon unzählige Legenden über die Drachentürme gehört. Jedes Kind in Mra’Theel kannte sie. Den Erzählungen nach begrenzten sie die bewohnten Gebiete Erendals und Vehnis gegen die geheimnisumwobenen Drachenberge. Die von Legenden umrankten Türme wehrten jeden Angriff ab, der von den Bergen her über den Kontinent hinwegzubranden drohte, und verfügten über geheime Magie, die bei einer Attacke Drachen gegen die Invasoren sandte.
Liang verdrehte die Augen. »Ein erster Angriff steht uns kurz bevor. Noch heute werden die Kvor hier einfallen. Wir können jede Hilfe gebrauchen, die wir finden können.«
Arin kam Tindra mit seiner Frage zuvor. »Was ist los?« Er war sichtlich verwirrt, als sein Blick zwischen Juang und dem bewaffneten jungen Mann hin und her zuckte und schliesslich an Liang haften blieb. »Niemand kommt an den Drachentürmen vorbei«, wiederholte er mit leicht gerunzelter Stirn Juangs Aussage.
Liang warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Die Drachen sind tot. Nichts hat die Bastarde aufgehalten. Nur dank der Steppe hat sich ihre Zahl dezimiert.« Er wandte sich dem Schmiedemeister zu. Offenbar hoffte der junge Bäcker bei Juang auf mehr Verständnis. »Sie sind hierher unterwegs. Wir brauchen Waffen.«
Tindra wusste, wie sehr ihr Meister eine Schlacht verabscheute, wohingegen er einen tänzerisch gefochtenen Kampf liebte. Er sorgte sich um die Jugend im Dorf und war vielleicht der Einzige, der über Kriegserfahrung verfügte. Juang würde die verlangte Ausrüstung nicht herausrücken.
Der alte Mann kratzte sich am Bart und wich Liangs Blick aus. »Eine Schlacht ist keine Lösung.«
Hart lachte Liang auf. »Wenn wir uns nicht wehren, werden sie uns dem Erdboden gleichmachen.«
Juangs Stimme zitterte, seine Augen spien Feuer. »Was, wenn wir fallen? Steinwacht wird ausgelöscht.« Der untersetzte Schmied ging einige bedachte Schritte auf den jungen Mann zu und blieb erst dicht vor ihm stehen. Obwohl er kleiner war, wich Liang zurück. »Was sollten sie schon in Steinwacht suchen? Rubine? Dann überlasst ihnen die Minen! Eure Frauen? Die Gesetze von Seylani und Doana schützen auch sie. Niemand wird es wagen, den Zorn der Göttinnen heraufzubeschwören. Sie wachen über ganz Mra’Theel.« Juang warf Tindra einen bedauernden Seitenblick zu, der ihr einen leisen Stich ins Herz sandte. »Die Einzige hier, die sich fürchten muss, verlässt uns.« Mit einem tiefen Atemzug drehte er sich wieder zu Liang um. »Wir haben nichts, was sie wollen. Sie werden hierherkommen, sich die Bäuche vollschlagen und verschwinden. Geben wir ihnen, was sie verlangen, sind wir ein paar Schweine und einige Fässer Bier ärmer. Wenn wir uns ihnen in den Weg stellen …« Er beendete den Satz nicht, wohl in der Hoffnung, dass Liang den Gedanken selbst weiterspinnen konnte.
»Sie dürfen nicht hierhergelangen! Wir müssen sie aufhalten, bevor sie Steinwacht erreichen«, begehrte dieser jedoch auf und trat einen Schritt auf den Schmied zu.
Juang seufzte. »Ich sende niemanden mit meinen Waffen in den sicheren Tod. Es gibt eine Handvoll Männer in Steinwacht, die mit einem Schwert umzugehen und einen Dolch zu führen wissen. Du gehörst nicht zu ihnen. Also verschwinde hier und wage es nicht noch einmal, mich nach Waffen zu fragen.« Die Augenbrauen des Schmiedemeisters zogen sich so weit zusammen, dass sie sich in der Mitte berührten und einen bedrohlichen Schatten über seine Augen warfen.
»Aber …«
»Verschwinde!«
So wütend hatte selbst Tindra Juang noch nicht gesehen. Normalerweise strahlte er eine Ruhe aus, die ihresgleichen suchte, vieles prallte an ihm ab. Ging es jedoch um Kinder und junge Erwachsene, wurde er weich. Sie warf ihrem Meister einen langen Blick zu, bis Arin sie flüchtig am Arm berührte. Sie sollten sich auf den Weg machen.
Liang trat unter dem Bogen hindurch und machte sich an den Abstieg. Noch in Hörweite warf er einen wutentbrannten Blick zurück und murmelte einen unverständlichen Fluch.
Tindra drehte sich zu ihrem Meister um. Auch ohne ein Wort verstanden sie sich, wussten, dass dieser Abschied vielleicht für immer war.
Juang brachte die Distanz zwischen ihnen mit grossen Schritten hinter sich und schloss sie in eine feste, fast schmerzhafte Umarmung. »Pass auf dich auf, Tindra. Ich werde dich vermissen.«
Froh, dass sie das Gesicht an seiner Brust verstecken konnte, holte sie tief Luft und wartete, bis sein Hemd ihre Träne aufgesogen hatte. Sie wollte nicht von ihm Abschied nehmen. Das hier war der einzige Ort in Steinwacht, an dem sie sich wohlfühlte, ihre kleine Zuflucht.
Sie dachte an Liang, an seine Wut und das Unverständnis, das sein Wunsch in ihr auslöste. Sie wollte Steinwacht und seine Bewohner auch schützen, sosehr sie sich auch immer weit weg von hier gewünscht hatte, doch ein Kräftemessen mit Kriegern konnten sie nicht überleben.
Über so viel Dummheit konnte sie nur den Kopf schütteln. Wer wollte schon einen Kampf, vielleicht gar Krieg? Dennoch lösten seine Worte nicht nur Unverständnis, sondern auch Sorge in ihr aus. Ihre liebsten Menschen lebten hier: ihre Eltern, ihre Schwester, Juang, Sunyu …
Erschrocken hielt Tindra in ihrer stummen Aufzählung inne. Sunyu gehörte nicht zu ihren liebsten Menschen. Er war gar kein Mensch – jedenfalls kein richtiger.
Sie seufzte leise. So dumm konnte wohl nur sie sein. Wie Arin zu Beginn ihrer Reise schon gesagt hatte, reiste niemand für einen Bekannten in die Nebelreiche.
Der Bote setzte sich in Bewegung, Tindra folgte ihm. Je länger sie wartete, desto schwerer würde ihr der Abschied fallen.
»Wir müssen nach Osten«, flüsterte er. »Ich muss die Türme sehen.«
Tindra warf ihm einen verwirrten Blick zu. Eigentlich hatten sie sich dazu entschlossen, die Sache mit der Nachricht, die ihm gestohlen worden war, mit den Irin zu klären. Bei ihrem Besuch in Grimsvik hatte der Bote das Schreiben nicht zurückholen können. Der Versuch, es wieder an sich zu nehmen, hatte ihn in den Kerker befördert. Nun musste er sich seinen Auftraggebern erklären.
Mit den Augen folgte sie Liang, der zwischen den Häusern verschwand. »Kennst du dort ein magisches Tor?«
Er schüttelte den Kopf.
Sie schloss die Augen. Wieder durch Feindesland, schon wieder dieses Versteckspiel, diese ständige Angst, die Ungewissheit.