Wenn wir durch den Regen tanzen (Leseprobe)

Kapitel 1

 

Kein gesunder Mensch tanzt.

(Marcus Tullius Cicero)

 

Nelas Kopf hämmerte, als hätte sie drei Tage lang nicht geschlafen und keinen Tropfen getrunken. Gierig leerte sie ihre Wasserflasche, an der die Luftfeuchtigkeit zu winzigen Perlen kondensierte. Sie befeuchteten ihre Hand und beruhigten ihr erhitztes Gemüt ein wenig. Unfähiger Chef! Wie kam dieser überhaupt auf die bescheuerte Idee, innerhalb von sechs Tagen eine grosse Eröffnungsfeier organisieren zu wollen? »Habe es vergessen«, hatte er ihr nur patzig auf diese Frage geantwortet und sie aus dem Büro gescheucht.

Sie schüttelte den Kopf und massierte sich die Schläfen. Heute würde sie wieder bis weit nach Einbruch der Dunkelheit in ihrem Büro sitzen und die Verabredung mit ihren Freundinnen verpassen, morgen den geplanten Abend mit ihrer Schwester. Nela seufzte. Es war, als wollte ihr Chef sie absichtlich ins Messer laufen lassen.

Die Aussicht auf ihre dahinschmelzende Freizeit stimmte sie nicht fröhlicher, doch auch stilles Jammern half nichts. Sie musste diese Feier organisieren, und zwar in Windeseile. Nela nahm das Headset von der Halterung, setzte sich aufrecht hin und wählte mit flinken Fingern eine der Nummern, die sie in den letzten Monaten auswendig gelernt hatte, so oft, wie sie mit Herrn Zeller telefoniert hatte.

»Zimmermann, Zeller Holzbau AG, guten Tag.« Die männliche Stimme hörte sich warm und freundlich an. Sie hatte Herrn Zimmermann einmal auf der Baustelle getroffen, ein wenig Macho, mit einem breiten Lächeln und strahlenden Augen. Seinen Pfiff hatte sie nicht vergessen. Vielleicht sass ihm der Schalk zu fest im Nacken, um ernst zu bleiben.

»König, Schwab Architekten und Partner AG, guten Tag.« Sie seufzte so laut, dass er es bestimmt hören konnte. So kurz davor, ihren Chef in die Pfanne zu hauen, war sie noch nie gewesen. Eine kurze Bemerkung, was Herr Schwab verpasst hatte, und die Neuigkeit würde sich wie ein Lauffeuer in der Branche verbreiten. Immerhin hatte ihr Boss sie in die Scheisse geritten, indem er stets behauptete, alles für die Einweihungsfeier vorzubereiten oder wenigstens in Auftrag zu geben.

Nela konzentrierte sich auf das aktuelle Gespräch, auch wenn es ihr nicht leichtfiel. »Wie ausgebucht sind Sie?«

Ein leises Lachen erklang am anderen Ende der Leitung. »Privat oder geschäftlich?«

Nela seufzte, diesmal so laut und genervt, dass er es unmöglich überhören konnte.

Einen Moment herrschte Stille in der Leitung, dann räusperte er sich. »Mehrere Wochen.«

Nela schloss die Augen. Genau das hatte sie befürchtet, als Herr Schwab ihr die frohe Kunde verkündet hatte. »Könnten Sie etwas dazwischenschieben?« In knappen Worten umriss sie Herrn Schwabs Vorstellungen der Feier am kommenden Samstag.

Herr Zimmermann lachte, als hätte sie den Witz des Jahres gerissen. »Sie wissen aber, dass es nur noch sechs Tage bis dahin sind?«

»Natürlich.« Das ist auch nicht auf meinem Mist gewachsen. Nela schluckte die Worte hinunter. Am liebsten hätte sie sich die ganze Wasserflasche in den Rachen gekippt. »Es tut mir leid, dass ich erst jetzt anrufe. Der ganze Bauablauf hat mich völlig in Beschlag genommen, und die Feier rückte in den Hintergrund.« Sie kam sich klein und nichtig vor, wie sie sich herausredete, auch wenn sie als Einzige die Herrschaften immer wieder auf die Feier hingewiesen hatte.

Herr Zimmermann rechnete ihr vor, wie lange sie für den angeforderten Pavillon brauchen würden, als hätte sie selbst keine Ahnung von Holzbau und Planung. Natürlich war er der Fachmann, doch sie hatte den Betrieb einmal besucht, um sich selbst ein Bild von der Arbeit zu machen. Ausserdem mochte sie den Geruch nach frisch gesägtem Holz.

Nela verbot sich eine bissige Bemerkung über ihren Chef und seufzte stattdessen leise. Sie hatte genug von diesem Scheiss. »Hören Sie, Herr Zimmermann. Wenn Sie den Auftrag annehmen, bin ich gern bereit, in einer Woche über unsere interne Planung zu sprechen und mich zu erklären. Falls Sie den Pavillon nicht rechtzeitig fertigstellen können, frage ich jemand anderen an.«

»Wir müssten Überstunden leisten«, gab er zu bedenken. »Aber für eine charmante Frau wie Sie werden wir uns ins Zeug legen.«

Sie rollte mit den Augen, konnte sich ein Lächeln jedoch nicht verwehren. »Es spielt keine Rolle, ob die Arbeit teurer wird. Hauptsache, dieser Pavillon steht am Samstag um drei Uhr.«

»Eine Einladung zum Essen hätte auch gereicht.« Herr Zimmermann lachte leise, aber es war kein hämisches oder gar schadenfrohes Lachen, sondern ein ehrlich erfreutes. »Einen Moment bitte. Ich muss das intern kurz besprechen.«

Der Hörer am anderen Ende der Leitung wurde auf den Tisch gelegt, Männerstimmen diskutierten im Hintergrund. Jemand murrte, Herr Zimmermanns Lachen folgte. Die beiden schienen sich wunderbar zu verstehen.

»Ich hab dir doch gleich gesagt, dass es mit dem Schwab irgendwann nicht mehr funktioniert«, warf jemand im Hintergrund ein. Mit jedem Wort wurde die Stimme lauter, als würde sich der Mann dem Telefon nähern. »Aber wenn wir den Auftrag nicht annehmen, verklagt er uns noch.«

Die anderen Männer lachten zustimmend, einer klatschte gar in die Hände.

»Ist das dein ausschlaggebendes Argument?«, vergewisserte sich Herr Zimmermann.

Zu gern hätte Nela gewusst, was der andere gesagt hatte.

Wieder folgte ein undurchdringliches Nuscheln, bis es am Hörer selbst raschelte und sich Herr Zimmermann meldete: »Sind Sie noch dran?«

Nur mit Mühe konnte sich Nela zu einem Lächeln durchringen. »Ja, selbstverständlich.«

»Sie können sich auf uns verlassen.«

Erleichtert atmete Nela aus und schloss die Augen. Jemand hatte zugesagt, der Infopavillon würde rechtzeitig stehen. »Vielen Dank, Herr Zimmermann. Sie wissen gar nicht …«

»Sie werden mir die Pläne noch heute mailen, ja?«, unterbrach er sie. »Wir haben keine Zeit, uns zu unterhalten, wir müssen einen Pavillon bauen.« Selbst durch die Leitung vermeinte Nela sein Zwinkern zu sehen.

Sie strich die Bluse glatt und nickte. »Auf jeden Fall.« Es blieb nur noch zu hoffen, dass ihr Chef die Unterlagen bereits erstellt hatte, doch beim Gedanken an die Pläne beschlich sie eine böse Vorahnung.

Mit flinken Fingern durchsuchte sie den Projektordner, sah im Planverzeichnis nach, dann in den drei falschen Unterordnern und stöhnte schliesslich genervt. Für diesen verfluchten Pavillon gab es nicht einmal eine Ideenskizze.

Ein Arbeitskollege in der Ecke lachte hämisch, und die Sekretärin, die alte Zwetschge, streckte ihren Hals, um Nela zu beobachten. Keine Minute später stand die dürre Fünfzigjährige auf, stöckelte zur Kaffeemaschine und verschwand mit einem heissen Kaffee in Herrn Schwabs Büro. Bestimmt würde sie sich wieder darüber auslassen, wie schlecht die junge Architektin arbeitete, die abgesehen von den beiden Sekretärinnen die einzige Frau im Team von gut vierzig Mitarbeitern war.

Nela biss die Zähne zusammen. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Das hatte sie sich geschworen, als sie diesen Job vor gut zwei Jahren angenommen hatte. Dennoch fühlte sie sich wie eine Versagerin. Entgegen all ihren Vorsätzen hatte sie sich vor eineinhalb Wochen um eine Stelle beworben, die einfach zu gut geklungen hatte. Hier wegzukommen … Ein wenig fühlte es sich wie ein Befreiungsschlag an. Deshalb hatte sie sich auch beworben.

Mit neuer Energie durchforstete Nela die Cateringanbieter in Berns näherer Umgebung, besprach sich mit ihnen, holte ein Angebot ums andere ein, bis irgendwann niemand mehr ihre Anrufe entgegennahm und ihr das Büro dunkel und leer entgegengähnte.

Eigentlich wollte sie jetzt auch nach Hause, doch noch immer fehlten die Pavillonpläne, die ihr Chef schon vor Wochen hätte anfertigen müssen. Wenn der Infostand nicht wunschgemäss aussah, würde sie in einer Woche die Kündigung in der Hand halten.

 

»Hey, Mel. Tut mir leid, ich schaffe es heute nicht.« Nela wartete auf den Bus, das Handy fest ans Ohr gepresst. Den letzten hatte sie wegen einer halben Minute verpasst. Noch immer plagten sie Kopfschmerzen, und sie wünschte sich, endlich ins Bett zu fallen und diesen missratenen Tag zu vergessen.

Ihre beste Freundin schnaubte in die Leitung, sodass Nela wunderbar hörte, wie wütend sie war. »Wir warten hier seit Stunden, das Treffen ist schon so lange geplant!«

Sie konnte sich lebhaft und in Farbe vorstellen, wie die rotblonde Schönheit die Arme in die Luft warf und sie mit funkelnden Augen ansah. Nela lächelte müde. »Der Schwab hat es verpasst, die Einweihungsfeier für Samstag zu organisieren, und er will ja einen Pavillon. Aus Holz und draussen.«

»Und so was nennt sich Planer.«

»Mel, er gibt sein Bestes. Er ist eben ein gefragter Architekt und Planer. Wer mit ihm zusammenarbeitet, kann sehr viel lernen.« Mit jedem Wort pochte ihr Kopf lauter. Sie fühlte sich ausgelaugter als nach ihrem ersten frühmorgendlichen Joggingrundgang, als sie vor etwa vier Jahren damit begonnen hatte.

Im Hintergrund lachte jemand hart auf. Chiara, die schwarzhaarige Architektin und Studienfreundin entgegnete: »Die Bauherren kommen zu uns, weil sie nicht mit diesem Tyrannen zusammenarbeiten wollen. So viel zum Thema gefragt.«

»Du weisst genau, dass das Geschäftsumfeld hart ist.« Nela stöhnte leise. Unerbittlich hämmerte der Pulsschlag in ihrem Kopf. Sie wollte nur noch ins Bett. »Ausserdem habe ich jetzt Feierabend und will nicht über die Arbeit sprechen.« Sie hatte es gerade noch geschafft, einen Pavillon zu zeichnen, und hoffte, dass sie bei den Infotafeln nichts vergessen hatte. Wenn nur eine Tafel mehr aufgehängt werden sollte … Sie wollte erst gar nicht an die Konsequenzen denken.

Mel seufzte ergeben. »Kommst du noch auf einen Tee vorbei – einen kurzen? Wir vermissen dich, Nelchen.« Vermutlich schob sie jetzt die Unterlippe vor und guckte wie ein treuer Hundewelpe, der ein Leckerli erbettelte.

Sie lächelte besänftigt. Seit ihrer Schulzeit war sie mit Mel befreundet. Nela war immer deutlich kleiner als das hübsche Mädchen gewesen, und der Spitzname Nelchen hatte sich mit der Zeit eingebürgert, bis die pubertäre Mel irgendwann beschlossen hatte, dass sie den Namen entdeckt hätte und nur sie ihn benutzen dürfte. »Aber nur kurz.«

 

Berns nächtliches Rauschen beruhigte Nela zumindest ein wenig. In der Altstadt fuhren die Busse etwas langsamer, die Autos hupten nicht. Selbst ihre Kopfschmerzen rückten dank der gemütlichen Stimmung etwas in den Hintergrund.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie durch das Fenster des Cafés ihre beiden Freundinnen entdeckte, die bei Kaffee und Tee zusammensassen und miteinander quatschten. Eigentlich war sie zu müde, um noch in der Stadt zu bleiben, und doch freute sie sich auf ein wenig Geplänkel.

Mit einem breiten Grinsen liess sie sich auf die Couch fallen, die sie zu ihrem Stammplatz auserkoren hatten. Chiara rührte in einem Sessel versunken in ihrem Tee, während sich Mel im Inneren des Cafés umsah. »Kennst du sie noch nicht alle auswendig?«

Unbeeindruckt zuckte die Verkäuferin mit den Schultern. »Wie die Dinge muss man auch Menschen von verschiedenen Seiten betrachten.« Sie wandte sich ihren Freundinnen zu und bedachte Nela mit einem bedeutsamen Blick. »Sieh dich einmal an. Du arbeitest so hart bei einem Schwein, dass du eines Tages bucklig davon wirst. Also bäh. Aber eigentlich bist du ganz hübsch und nett.«

Nela lachte leise. Sie wusste ganz genau, dass ihre beiden Freundinnen mehr verdient hatten als ein paar kurze Treffen nach der Arbeit – die sie regelmässig absagen musste, da noch kurzfristig etwas zu erledigen war. »Der Schwab hat vergessen, die Feier zu organisieren.«

»War das nicht deine Aufgabe?«, fragte Chiara sarkastisch.

Seufzend lehnte sich Nela nach hinten. »Je nachdem, wen du fragst. Der Schwab würde es auf jeden Fall behaupten. Aber ich gelobe, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, wenn ich beteuere, davon bis vor zehn Stunden keine Ahnung gehabt zu haben.« Sie bestellte sich eine heisse Schokolade, als die Bedienung an ihren Tisch kam. »Und der Schwab ist so dämlich, einen Pavillon aufzustellen, noch dazu draussen bei dieser Kälte.« Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Als würde sich jemand in der Kälte über den Bau und dessen Abläufe informieren.«

Chiara lachte und hob die Tasse zu einem Prost. »Wie gesagt, die sensationelle Planung vom Schwab.« Der Sarkasmus in ihrer Stimme war nicht wegzudiskutieren.

Nela rollte mit den Augen. »Sogar nach Feierabend muss ich mich verteidigen.«

»Dann such dir einen anderen Job.«

Nela lehnte sich zurück, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Mit ihren Neuigkeiten rechneten die beiden Frauen ganz bestimmt nicht. »Ich habe mich schon beworben.«

»Was?«, kreischte Chiara.

Mel schlug mit dem Handrücken gegen ihre Schulter, ein erstickter Schrei zwischen Kaffee und Freude entkam ihrer Kehle. Sie verschluckte sich, hustete und schnappte nach Luft. »Wirklich? Meine Güte, du entwickelst dich ja richtig, Nelchen.«

Angesichts der unverhohlenen Freude ihrer Freundinnen gelang Nela ein nachsichtiges Lächeln, auch wenn die beiden ständig auf ihrem Chef und der Arbeit herumhackten. »Es ist ein kleineres Planungsunternehmen, das jemanden mit Bauleitererfahrung sucht.«

Chiara nickte wissend. »Beim Kuster? Von der Stelle habe ich gehört, soll aber nicht allzu gut bezahlt sein. Sonst hätte ich dich informiert.« Im Gegensatz zu Nelas Mitarbeiter sprachen Chiara und ihre Arbeitskollegen mit anderen Büros, sodass solche Informationen stets die Runde machten.

Dabei spielte das Geld für Nela nicht so eine wichtige Rolle. »Haha, als wäre ich so eine High-Society-Lady, die den ganzen Tag nichts anderes macht, als shoppen zu gehen«, entgegnete sie sarkastisch.

Mel schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuss, während sie betont gelassen die Augenbrauen hochzog. Sie betrachtete ihre Fingernägel, als gäbe es nichts Spannenderes zu sehen. »Nicht so abfällig, junge Dame. Wer den lieben langen Tag nichts anderes zu tun hat, als Geld auszugeben, der darf gern zu mir ins Geschäft kommen.«

Mit schiefgelegtem Kopf betrachtete Nela ihre Sandkastenfreundin, die in einer teuren Boutique ihren Traumjob gefunden hatte. Solange sie sich keinen reichen Mann angelte oder den Laden übernahm, vertrieb sie sich die Zeit mit knackigen Burschen und süssen Mädels. »Junge Dame? Du bist nur drei Tage älter als ich«, erwiderte Nela.

Chiara und Mel lachten. »Aber du bist die Einzige von uns, die einem solchen Job nicht schon lange den Rücken gekehrt hat, nur weil sie noch immer glaubt, dass das Ansehen eines cholerischen Architekten positiv auf sie abfärbt.« Versöhnlich zwinkerte Mel ihr zu.

»Obwohl sie nun doch den ersten Schritt gemacht hat«, gab Chiara zu bedenken.

Innerlich musste Nela den beiden recht geben. Doch nachdem sie sich Jahre an ihr Mantra geklammert und geglaubt hatte, dass der Schwab ihre Arbeit eines Tages wertschätzte, konnte sie das nicht so einfach sagen.

Sie trank von ihrer Schokolade und wartete, bis sich das Thema in den Köpfen ihrer Freundinnen etwas verflüchtigt hatte. »Übrigens, Chiara, Manuel hat sich letzte Woche noch nach dir erkundigt«, eröffnete sie wie nebensächlich das zweite Thema, das Mel alles andere vergessen liess. Die Männergeschichten ihrer Freundinnen waren das Einzige, das ihr neben einem reichen Lover den Atem raubte.

Den Architekturstudenten aus dem Semester über ihnen hatten sie letztens im Klub wiedergetroffen. Schon früher hatte Nela den Eindruck gehabt, dass er an Chiara interessiert war, doch diese hatte sich komplett auf ihr Studium konzentriert. Vermutlich hätte sie ihn selbst dann nicht wahrgenommen, wenn er nackt vor ihr gestanden hätte.

Mel fielen die Augen fast aus den Höhlen, als sie den Mund zu einem lautlosen Freudenschrei öffnete und Chiara ansah, als hätte diese den Jackpot im Lotto geknackt. »Wer …? Wie …? Du?«

Nela prustete laut los. Endlich fiel die Last des Tages von ihren Schultern. Sie würde es morgen um sieben bereuen, wenn sie wie eine schlafende Leiche ins Büro torkeln und sich die Nacht aus den Augen reiben würde. Aber jetzt gerade brauchte sie ihre beiden Freundinnen, die unterschiedlicher nicht sein konnten und sie, jede auf ihre eigene Art, aufmunterten.

 

Kapitel 2

 

Es sind nicht alle lustig, die tanzen.

(Christoph Lehmann)

 

»Hast du eine Latte?« Corvin streckte den Arm aus und wartete, bis sein Arbeitskollege ihm eines der Bretter reichte – vergebens. Als er nach unten sah, grinste Gregor frech, den Kopf zur Seite geneigt.

Gregor trug die übliche Zimmermannskluft, mit schwarzen Hosen und fester Weste, allerdings war sie ihm nicht so wichtig, wie sie es für Corvin war. Seit fast zwei Monaten fehlte einer der Knöpfe, noch immer hatte er es nicht für nötig befunden, ihn anzunähen. »Na, so gut siehst du nun auch wieder nicht aus, dass ich eine Latte hätte.« Sein Arbeitskollege stemmte die Hände in die Hüften und wackelte mit den Augenbrauen, als würde er mit seiner Frau schäkern.

Corvin verdrehte theatralisch die Augen. Das Grinsen erwidernd, beugte er sich nach vorn. »Vielleicht sollte ich mich ausziehen. Meinem Knackarsch konnte noch niemand widerstehen.«

Gregor lachte und reichte ihm endlich das Holzbrett, nach dem er schon lange die Hand ausgestreckt hatte. Corvin nagelte es zur Unterstützung an die Dachkonstruktion, prüfte seinen Halt und kontrollierte den Pavillon, den sie innerhalb von vier Tagen geplant, gezimmert und hier aufgestellt hatten. Noch fehlten das weisse Stoffdach und die durchschimmernden Textilbahnen, die den Infobereich vom Empfang trennten.

Die Cateringmitarbeiterin, die schon den ganzen Tag organisierte, befahl und dekorierte, kam mit federnd leichten Schritten auf den halb fertigen Pavillon zu. Ihr flüchtiger Blick liess ihn automatisch lächeln, doch sie drehte sich weg, noch bevor sie es sehen konnte. Sie beugte sich über einen Tisch, um das Blumengesteck auf dem weissen Tuch zu platzieren. Die Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihren Hintern, über dem sich der Jeansstoff spannte. Hübscher Knackarsch. Erneut eroberte ein Grinsen sein Gesicht.

»Süss, die Kleine, was?«

Genervt von Gregors Beobachtungsgabe und seiner Bemerkung, rollte Corvin mit den Augen und schwang sich kommentarlos vom Pavillon. Es hätte sowieso nichts geholfen. Gregor war ein alter Schwerenöter, der es auf der Baustelle nicht anders kannte. Da waren Männer unter sich und solche Sprüche an der Tagesordnung. Zwischendurch spielte er sogar mit, es war eine willkommene Abwechslung im Alltag.

Er klopfte sich die Hände vom gröbsten Staub sauber und besah sich das Werk. Ein bisschen stolz war er schon darauf. Warm lag das gehobelte Holz unter seinen Fingern, als er darüberstrich, und sandte den Duft nach Natur und Heimat in den Raum, der diesem Betonbunker niemals eigen sein würde. Für die heutige Eröffnung des neuen Gewerbezentrums mit Ausstellungsräumlichkeiten und modernsten Konferenzräumen hatten die Planer auf den letzten Drücker einen Infopavillon in der Eingangshalle gewünscht. Dem bedeutenden Architekturbüro hatten sie keine Absage erteilen wollen. Dennoch war es ein Kraftakt gewesen, alle Materialien und zeitlichen Ressourcen zu organisieren, um das robuste Zelt in der Halle aufzustellen.

Corvin huschte ein Lächeln über das Gesicht, als er an die Besprechung von Anfang der Woche zurückdachte. Er hatte sich mit dem Boss des Architekturbüros getroffen, um die Details zu diskutieren. Der Herr hatte gemeint, der Pavillon müsse draussen aufgebaut werden. Erst als Corvin erwähnt hatte, dass im Winter kaum jemand in einem offenen Zelt stehen würde, wenn er doch im Warmen Sekt und Häppchen serviert bekäme, hatte der Mann seine Pläne geändert.

Gregor wies mit der Hand zu einer der oberen Ecken. »Dort fehlen noch die Nägel für die Informationstafeln.«

Mit einem misstrauischen Blick sah Corvin hoch. Er hatte doch bei jedem Balken daran gedacht. Doch nach dem langen Tanzabend gestern … »Dann erledigen wir das noch, bevor ich mich für den Abend bereit mache.« Er schob die Leiter unter die Stelle mit den fehlenden Haken, griff sich einen Nagel aus dem Werkzeuggürtel und schlug ihn ein. Wäre es gewünscht gewesen, hätte er es auch hübscher machen können – nur nicht in der kurzen Zeit.

»Seid ihr bald fertig?«, unterbrach eine angenehme Frauenstimme seine Gedanken.

Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen drehte sich Corvin um. Die braunhaarige Frau vom Cateringservice, die seit heute Morgen in der Eingangshalle herumwuselte, stand neben Gregor und sah abwechselnd ihn und seinen Arbeitskollegen an. Ihre Augen strahlten von innen, auch wenn sie müde wirkte.

Er nickte ihr flüchtig zu. »Einmal davon abgesehen, dass die sogenannten Planer keine Ahnung von Planung haben … ja.« Er packte den Balken des Pavillons und schwang sich von der Leiter. Bei der Landung deutete er eine Verbeugung an.

»Angeber«, nuschelte Gregor, doch seine grünblauen Augen lachten.

Sie legte den Kopf leicht schief, ein kaum erkennbares Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. Ihre Augen funkelten für einen Moment übermütig. »Na, wenn der Herr meint.«

»Es ist so.« Corvin zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm gleichgültig, dabei hatte er bis gestern Abend geschimpft wie ein Rohrspatz. »Aber wenigstens hatte die Planerin einen hübschen Hintern, soweit ich mich erinnern kann.« Vielleicht konnte er sie so etwas aus der Reserve locken.

Ihre Augenbrauen wanderten betont langsam nach oben. Noch immer umspielte ein kaum erkennbares Lächeln ihre Lippen. »So?«

Schien wohl nicht zu klappen. »Vielleicht hätten sie der jungen Dame besser einen erfahrenen Architekten zur Seite gestellt.«

Sie lächelte offen, dennoch wurde er den Eindruck nicht los, dass sie sich heimlich über ihn lustig machte. »Vielleicht wusste der Planer ja auch noch nicht, dass der Bauherr einen Pavillon wünscht. Übrigens fehlt dort noch ein Nagel.« Sie deutete selbstbewusst zur zweiten Seite, die sie montiert hatten. »So können wir die breite Infotafel nicht aufhängen.«

Etwas erschrocken drehte sich Corvin um. Tatsächlich, da prangten nur drei Nägel statt der geforderten vier. Am liebsten hätte er sich an den Kopf gefasst, doch diese Blösse wollte er sich vor ihr nicht geben.

Gregor lachte in sich hinein und wandte sich der jungen Frau zu. »Er kann sich eben kaum konzentrieren, wenn seine Augen eine hübsche Frau erblicken.« Wieder lachte er, diesmal noch lauter.

Ehe sie reagieren konnte, schlug Corvin seinem Kollegen neckisch gegen die Schulter. »Werd nicht frech, Bürschchen.«

»Bürschchen? Na warte!«

Corvin wich dem Blick seines Freundes und Lehrmeisters aus und besah sich gespielt genau die Stelle mit dem fehlenden Nagel. »Dass du auch nicht daran gedacht hast, Gregor.« Er schüttelte den Kopf und schnalzte dabei mit der Zunge.

Die Frau schmunzelte und machte keine Anstalten, sie allein zu lassen, sondern genoss das Schauspiel sichtlich. An ihrer Stelle wäre er wohl auch geblieben.

»Das warst du! Aber es ist kein Wunder, wenn du die ganze Nacht unterwegs bist, dass du dann Nägel vergisst.« Gregor stemmte die Hände in die Hüften. »Und wer ist hier wohl das Bürschchen?«

Die Frau räusperte sich. »Wenn es dem Herrn und dem Bürschchen recht ist, würde ich gern mit der Dekoration fertig werden. Der Nagel und die weissen Tücher fehlen noch.«

Wenn sich Corvin nicht täuschte, rollte sie mit den Augen, doch es war so schwach, dass er sich nicht sicher war. »Haben die Planer auch dir einen Strich durch die Rechnung gemacht? Haben sie etwa erst am Montag angefragt?«

Insgeheim musste er die Planung loben. Während der Bauarbeiten war es zu keinen Verzögerungen gekommen, die weiteren Schritte waren rechtzeitig kommuniziert worden. Für ihre Holzbaufirma war es die erste Zusammenarbeit gewesen, doch er konnte den Ärger anderer Unternehmen über die schlechte Planung nicht nachvollziehen. Informationen kämen nicht oder zu spät, die Bauleitung wäre selten vor Ort und kaum erreichbar. Zumindest bei diesem Projekt hatte die beteiligte Architektin ihr Bestes gegeben.

Die unrühmliche Ausnahme war die Hauruckaktion mit dem Pavillon. Bestimmt hatte die Mitarbeiterin des Caterings auch schon eine Kostprobe vom Können des Architekturbüros erhalten.

Sie musterte ihn mit leicht verengten Augen, als müsste sie abschätzen, wie weit sie gehen durfte – oder er gehen würde. »Sozusagen.« Ihr Lächeln wurde breiter, wieder funkelten die Augen in der hintersten Ecke belustigt auf.

Ein bisschen überrumpelt von ihrer Antwort, lachte Corvin in sich hinein und kratzte sich am Bart, den er jeden Tag sorgfältig trimmte. Er hob die Arme und liess sie fallen, sodass sie gegen seine Seiten klatschten. »Wenn wir erst so spät angefragt werden …« Er zwinkerte ihr zu, was ihr ein noch breiteres Lächeln entlockte.

Sie nickte, das Lächeln wandelte sich zu einem breiten Grinsen. »Genau, die Planung. Es liegt immer an der Planung.«

»Immer diese Architekten.« Leise stöhnte Corvin und verdrehte die Augen. »Wir sind gleich fertig«, beruhigte er sie.

Gregor lachte in sich hinein. »Genau, immer die Architekten, Bürschchen.« Er hatte der kurzen Unterhaltung mit einem süffisanten Lächeln beigewohnt, ohne ein Wort zu sagen.

Corvin stutzte und wandte sich wieder an die junge Frau. »Stimmt! Wer war denn nun mit Bürschchen gemeint?« Vielleicht konnte er ihr so ein Lachen und das Funkeln entlocken, das ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Lachend drehte sie sich weg. »Eine Lady schweigt und geniesst.«

Wenn er ihren verlockend leichten Hüftschwung richtig deutete, dann genoss sie es wirklich. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er sich umdrehte und den Pavillon ein letztes Mal begutachtete.

Sein Freund grinste breit, als er gegen seine Schulter stiess. »Gefällt sie dir?«

»Ich kann mich ja mit ihr unterhalten, wenn es mir Spass macht. Dafür muss mir eine Frau doch nicht gefallen.« Dennoch hinterliess die Frage einen Stich in seinem Herzen, den er schon zu lange mit sich herumtrug und der einfach nicht heilen wollte.

Demonstrativ klappte er die Leiter zusammen, verstaute das Werkzeug und blickte Gregor auffordernd an. Der ältere Mann mit dem rundlichen Bauch folgte seinem Beispiel und wischte den gröbsten Staub zusammen, ehe er die zweite Werkzeugkiste packte. »Weisst du, wer das war?« Gregor bemühte sich, gleichgültig zu klingen, doch ganz schaffte er es nicht.

Misstrauisch warf Corvin ihm einen Seitenblick zu. »Keine Ahnung. Eine vom Catering?« Wieso sollte ihn das auch interessieren? »Lass uns gehen. Ich muss mich für die Feier bereit machen.«

***

In seinen dunkelblauen Anzug gehüllt, trat Corvin in die von Stimmen und warmem Licht erfüllte Eingangshalle. Er zupfte am Hemdkragen, rückte die Krawatte zurecht und räusperte sich. Jetzt erlebte er etwas, das er bei seiner Arbeit als Zimmermann nur selten sah: Das abgeschlossene Gesamtprojekt und das Leuchten, das so viele Leute in den Projekten stets sahen. Ehrfürchtig wanderte sein Blick über die Wände, über die vielen Tische und Sitzgelegenheiten, die sich passend ineinanderfügten. Selbst der Pavillon, der im Gegensatz zum Rest grob und rustikal wirkte, ergänzte das Ambiente. Wer auch immer ihn entworfen hatte, musste diesen harmonischen Kontrast gesehen haben – oder hatte einfach Glück gehabt.

In der Eingangshalle tummelten sich mehr Menschen, als jemals an diesem Projekt gearbeitet haben konnten. Ein jeder von ihnen feierte die Fertigstellung und die Eröffnung des Neubaus. Wärme und Licht luden ihn ein zu vergessen, dass er selbst an einem ganz anderen Ort sein wollte. Er hatte geplant, tanzen zu gehen, doch gestern Abend hatte ihn sein kranker Chef gebeten, an seiner Stelle an der Eröffnungsfeier teilzunehmen. Deshalb stand er nun direkt neben der Eingangstür und kam sich überflüssig und fehl am Platz vor. Diese Leute wussten, was sie hier taten. Er hingegen …

»Der Herr ist also auch hier?«, fragte diese angenehme Stimme, die ein Lächeln mit sich trug und ihn aus seinen Gedanken zurückholte.

Corvin wandte den Kopf und entdeckte die junge Frau von heute Nachmittag, die ihn mit freundlich funkelnden Augen musterte. Sie trug ein Glas Sekt bei sich, ihre Lippen deuteten ein ehrliches Lächeln an. Ein Grinsen bahnte sich einen Weg in sein Gesicht. »Also war nicht ich das Bürschchen.«

Erheitert lachte sie auf. Der Sekt schwappte über, Tropfen hellgelber Flüssigkeit rannen am Glas entlang bis zu ihrer Hand. »Das wird dich den ganzen Nachmittag beschäftigt haben.« Sie zwinkerte und trank einen Schluck.

Ernst nickte Corvin. »Natürlich. Gregor und ich haben uns sogar gestritten, ein Kampf auf Leben und Tod. Wer überlebt hat, siehst du ja.« Er streckte ihr die Hand entgegen und wartete, bis sie einschlug und den Druck erwiderte. »Corvin.« Ihre Haut fühlte sich warm und weich an.

»Nela«, stellte sie sich vor. »Du arbeitest also bei Zeller Holzbau?«

Er nickte. »Schon seit über zehn Jahren.«

Irgendwoher kannte er ihren Namen, der doch nicht so alltäglich war. Auf die Schnelle wollte ihm nicht einfallen, woher. Trotzdem nagte die Ungewissheit wie eine lästige Zecke in seinem Nacken.

Sie lächelte wieder, vielleicht gar ein bisschen frech. »Und hin und wieder vergisst du einen Nagel?« In ihren Augen funkelte es verräterisch, wenn nicht gar vorlaut. Aber das Lächeln machte alles wieder wett.

Er warf ihr einen gespielt beleidigten Blick zu und zog eine Schnute. »Aber nur hin und wieder«, gab er leise zu, um dieses fröhliche Lachen wieder aus ihrer Kehle zu locken.

Sie prustete leise, hielt sich aber die Hand vor den Mund. »Wir sind hier in feiner Gesellschaft. Da sollte ich nicht ständig lachen wie eine Betrunkene«, beschwerte sie sich bei ihm.

Genau das mit der feinen Gesellschaft schlug ihm aufs Gemüt. Er könnte jetzt tanzen. Einziger Lichtblick des heutigen Abends war Nela, die es sichtlich genoss, all das hier zu sehen: Die Menschen, die Lichter und das Werk, das heute Einweihung feierte.

Er gehörte nicht wirklich hierher. Er war Zimmermann, kein feiner Herr. »Ich brauche ein Bier.« Vielleicht half das ja.

Sie zog eine Augenbraue hoch, schloss mit einer Armbewegung die ganze Halle ein und seufzte theatralisch. »Mein Herr, Sie nehmen an einem gesellschaftlichen Anlass der höheren Schichten teil. Bitte halten Sie die niederen Gelüste zurück, bis Sie wieder zu Hause sind.«

Er öffnete den Mund zu einem erschrockenen Schrei, lächelte dann jedoch. »Im Notfall tut es auch etwas Sekt.« Dabei mochte er Sekt nicht einmal. Er trank ihn nur, wenn es keine Alternative gab – und Wasser aus dem Hahn stellte durchaus eine solche dar.

»Dann komm mit.« Nela führte ihn in die Menge und wieder hinaus, bis sie bei einem Buffet ankamen, das seinesgleichen suchte. Bruschettas in verschiedensten Variationen, Lachsbrötchen, Oliven in Öl oder Essig eingelegt, getrocknete Tomaten mit Käse und Speck an einem Spiess, Obst, winzige Nussstangen, Zimtschnecken, eine Ecke mit Weihnachtsgebäck. Allein vom Anblick lief Corvin das Wasser im Mund zusammen. Von der Auswahl ganz erschlagen, starrte er erst einmal nur auf die Auslage, ehe er sich einen kleinen Becher mit Gemüsesticks, einen Quarkdip und ein paar Oliven auf den Teller legte. Den Sekt entdeckte er an einem anderen Tisch.

Nela lachte leise neben ihm. »So gesund?«

Lächelnd nickte er. »Ich hatte keine Wahl.« Das war nicht einmal der verzweifelte Versuch, sich herauszureden, sondern die pure Wahrheit. Mit so einem Buffet hatte er nicht gerechnet.

Sie nickte ernst, doch das Funkeln in ihren Augen blieb. »Natürlich.«

»Ich dachte, dass du auch erst seit Montag von der Einweihungsfeier und dem Auftrag weisst«, wechselte er das Thema. Bereits jetzt musste das Weihnachtsgeschäft bei den Caterern boomen. Dass sie in dieser kurzen Zeit so einen Anlass gezaubert hatten, sprach für den Service.

»Das stimmt so auch.«

Als er sich die erste Olive in den Mund schob, beobachtete er Nela von der Seite. Sie blickte in die Menge, ein Lächeln auf den Lippen, dennoch wirkte sie mit den Gedanken weit weg. Ihre gerade Nase malte einen sanften Schatten auf die Wange. Im Gegensatz zu der roten Bluse von heute Nachmittag trug sie nun ein unauffälliges schwarzes Kleid mit einem dunkelblauen Jackett. Obwohl sie äusserlich zur Gesellschaft passte, wirkte sie irgendwie fehl am Platz.

Corvin räusperte sich. »Lecker. Hast du schon probiert?«

Leise lachend schüttelte sie den Kopf. »Der Chef hat es verboten. Zumindest dürfen wir nicht im grossen Stil zulangen.«

Verständnisvoll nickte er. Wer wusste denn schon, welche Vorschriften Caterer ausarbeiteten. Es gefiel sicherlich nicht jedem Auftraggeber, wenn die Cateringmitarbeiter mehr assen als die Gäste. »Erkennen die Gäste dich denn, wenn du hier so schick angezogen bist?«

Sie sah ihn nachdenklich an und nippte an ihrem Getränk, vielleicht um sich seine Aussage etwas durch den Kopf gehen zu lassen. »So unschick war ich heute Nachmittag auch nicht unterwegs, oder?«

Corvin dachte an die rote Bluse und die hautenge Jeans zurück und schüttelte den Kopf. Sicherlich nicht in seinen Augen. Da hatte alles gepasst – sogar mehr als das.

Inmitten der Gäste entdeckte er Herrn Schwab, den Gesamtprojektleiter des Gewerbebaus. Er schien gerade in kein Gespräch verwickelt. Diese Chance musste Corvin nutzen. Wenn er ihn davon überzeugen konnte, öfter mit ihnen zusammenzuarbeiten, hätten sie für eine ganze Weile ausgesorgt. Der Architekt und sein Team waren heiss begehrt, jedenfalls bei den Bauherren. Ginge es nach Fachplanern und ihm, würde er viel lieber mit kleineren Büros zusammenarbeiten. Herr Schwab war ein Tyrann und behandelte seine Mitarbeiter nicht besonders zuvorkommend. Auch mit Geschäftspartnern ging er offenbar knallhart ins Gericht, wenn sie nicht so spurten, wie er das wollte. Dennoch konnten ihrem Betrieb weitere Kontakte nicht schaden, und Schwabs Büro genoss nach wie vor ein hohes Ansehen in der Region. Genau deswegen hatte sein Chef ihn heute auch hierherzitiert.

»Entschuldige mich bitte.« Ohne Nelas Reaktion abzuwarten, ging er auf den korpulenten Herrn zu. Nach erst einer Sitzung war er ihm unsympathisch, doch er wusste sich zu benehmen. Immerhin war er hier bei der Arbeit. Mit einem Lächeln trat Corvin an Herrn Schwab heran. »Guten Abend, Herr Schwab. Eine wunderbare Feier haben Sie hier organisieren lassen.«

Statt etwas zu erwidern, sah ihn der Patron nur aus dunklen Knopfaugen an.

»Corvin Zimmermann. Heute Abend vertrete ich die Zeller Holzbau AG. Der Geschäftsführer, Herr Roman Zeller, ist leider verhindert.«

Der Architekt schlug ein und nickte ihm knapp zu. »Sie haben auch etwas zu diesem Bau beigetragen?«

»Ja, wir …«

Der Mann griff sich an die Stirn. »Sie haben den Pavillon aufgestellt?«

»Genau, und …«

Herr Schwabs Nicken unterbrach ihn. »Ich habe noch zu tun.«

Mit offenem Mund blieb Corvin stehen und sah dem untersetzten Mann hinterher, wie er sich zum Stadtpräsidenten durchschlug und mit ihm anstiess. Den Sekt in Corvins Händen hatte er nicht einmal gesehen – oder nicht sehen wollen.

***

Wie eine Szene hinter Milchglas gingen die Reden des Stadtpräsidenten, des Bauherrn und eines Gewerbevertreters an Corvin vorbei. In Gedanken war er noch immer bei der Abfuhr des Architekten. Er verstand nicht, wie jemand so unhöflich und gleichzeitig erfolgreich sein konnte. Wer bekannt war, konnte sich wohl alles erlauben. Corvin hatte gehört, dass ein Tiefbauunternehmen unwirtschaftlich gearbeitet hatte, nur um ein Projekt mit dem Schwab zu realisieren.

Eine junge Frau mit braunem Haar und schwarzem Kleid erhaschte seine Aufmerksamkeit. Sie stand neben Herrn Schwab auf der Galerie, die den Raum auf Brusthöhe einrahmte, und beugte sich zu ihm, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern.

Schwabs sowieso schon grimmiger Ausdruck verdüsterte sich, und er machte eine wegwerfende Handbewegung, um sie vom Ort des Geschehens zu scheuchen. Nela zögerte einen Augenblick, schob Kinn und Unterlippe gar etwas trotzig vor, doch dann fielen ihre Schultern in sich zusammen, und sie verliess die Treppe.

Nela … Corvin wusste, dass er ihren Namen schon einmal gehört, vielleicht auch gelesen hatte. Er …

Nela König! Seine Augen weiteten sich, und er starrte die junge Frau an, die niedergeschlagen von der Treppe auf die Menge zuging und darin verschwand, als wäre sie ein Gast. Dabei hatte sie das Projekt gestemmt. Sie hatte den Traum visualisiert, geplant und termingerecht umgesetzt.

Sie war keine Cateringmitarbeiterin, sie war die Planerin mit dem zuckersüssen Hintern, die all das hier erst möglich gemacht hatte. Er hatte sich bei ihr über genau diese Planung beschwert. Und ihren Hintern als herausragendes Merkmal genannt. Verdammte Scheisse! Deshalb also das süffisante Lächeln, und auch Gregor …

Gregor! Wie ein Blitz durchfuhr Corvin die Erkenntnis. Sein Freund hatte gewusst, wer sie war, und ihm nichts gesagt, dieser elende …

Kopfschüttelnd vergass er seinen ehemaligen Lehrmeister. Auf der Baustelle hatte Corvin Nela in Helm und Leuchtjacke nicht als hübsche Frau erkannt – jedenfalls nicht so hübsch. Irgendwo würde er das bestimmt einmal als spezielle Fähigkeit deklarieren können. Ein leises Lachen entkam seiner Kehle.

Die wichtigen Männer hatten ihre Reden beendet, langsam kehrten die angenehmen Gespräche bei Häppchen und Sekt zurück. Das Licht wurde gedimmt, hin und wieder ertönte ein Lachen. Irgendwo wurde leise Jazzmusik gespielt, und der Takt verführte ihn dazu, sich die Tanzschritte vorzustellen, wie er mit einer Partnerin über das Parkett fegen und die Welt um ihn herum vergessen würde.

Auf keinen Fall kam es an das heran, was er eigentlich geplant hatte, wenn Roman ihn nicht um diesen Gefallen gebeten hätte. Noch hatte er geschäftlich nichts erreicht, was es umso schwerer machte, an die verpasste Boogie-Woogie-Party zu denken. Sogar eine Liveband spielte heute. Ginge es nach ihm, würde er nur tanzen und ab und zu eine Bergtour unternehmen. Doch die Touren weckten in ihm stets die Sehnsucht nach dem, was nicht mehr möglich war, also tanzte er lieber.

Elvis war sowieso viel besser als die Jazzmusik im Hintergrund. Er seufzte in sich hinein, leerte den Sekt und entdeckte auf einem Tisch zwei Flaschen Bier. Das an dieser Feier praktisch fehlende Gesöff konnte er sich nicht durch die Finger gehen lassen, also schnappte er sich gleich eine.

Aus den Augenwinkeln entdeckte er Nela an der Bar. Sie sass auf einem hohen Hocker und starrte geistesabwesend in die Menge, während ihr Fuss im Takt der Musik wippte.

Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Vielleicht konnte er die langweilige Feier ein wenig interessanter gestalten? Wie von selbst trugen ihn seine Beine zu ihr, und er lehnte sich an den Stehtisch. »Immer noch hier?« Dass sie noch nicht gegangen war, überraschte ihn wirklich.

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Wenn der Chef ruft, dann habe ich zu gehorchen.« Sie zwinkerte, doch es wirkte wenig überzeugend.

»Dein Chef hat keine Ahnung.« Das hatte er wirklich nicht. Wer ihre grandiose Arbeit nicht wertschätzte, für den hatte Corvin kein Verständnis. Wie der Schwab sie behandelt hatte, machte ihn noch wütender als die Tatsache, dass er eine Abfuhr erhalten hatte.

Sie hob die Augenbrauen. »So?« Da war es wieder, dieses Funkeln. Inzwischen wusste er auch, wieso sie so unschuldig tat. Sie machte sich über ihn lustig.

Er stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Tisch ab und legte den Kopf in seine Hand. »Lach ruhig über mich. Ich weiss, dass du für den Schwab arbeitest«, brummte er.

Für einen Moment wirkte sie erschrocken, doch als sie sein Lächeln entdeckte, lachte sie befreit los. Sie warf den Kopf in den Nacken und wirkte zum ersten Mal heute Abend nicht fehl am Platz. »Es tut mir leid, dir nicht reinen Wein eingeschenkt zu haben. Es war einfach zu verlockend.«

Er hob sein Bier. »Ich gebe mich auch damit zufrieden, Wein muss nicht immer sein.«

Wieder lachte sie, diesmal allerdings verhalten. Ohne ihm in die Augen zu sehen, nickte sie. »Herr Schwab mag es, wenn er bei Reklamationen direkt einen Mitarbeiter vorführen kann. Ausserdem verabscheut er Bier.«

Corvin warf seinem Getränk einen kurzen Blick zu. »Kann ich nicht verstehen. Aber ich kann auch nicht verstehen, wie eine so fähige Architektin und Planerin wie du für ihn arbeitet und an einem Samstag Blumen und Dekoration verteilt. Wolltest du mich nur hereinlegen?«

Von der Behandlung ihres Chefs nun offenbar abgelenkt, leuchteten ihre Augen freudig auf. Fasziniert von ihrer Begeisterung vergass er fast, ihr zuzuhören. »Im Studium habe ich Vertiefungen in Planung und Innenarchitektur gewählt. Als ich dann vor sechs Tagen den Auftrag bekam, die Feier noch zu organisieren, fand ich niemanden ausser dem Cateringservice, der die Dekoration so kurzfristig übernehmen konnte. Also habe ich es eben selbst in die Hand genommen.«

»Wieso macht das denn nicht der Cateringservice?«

Wieder hob sie die Augenbrauen und sah ihn ungläubig an, lächelte aber gleich darauf wieder. »Hast du mal ihre Bilder gesehen? Die würde ich nicht einmal dann präsentieren, wenn sie Herrn Schwab den Hintern retten könnten.«

Corvin erwiderte ihr Lächeln, obwohl ihm seine kurze Begegnung mit ihrem Chef noch in deutlicher Erinnerung war. Er konnte sich vorstellen, dass die Zusammenarbeit mit ihm nicht immer einfach war. Stets im Schatten zu stehen und keine Anerkennung zu erhalten, obwohl man sich den Arsch aufriss. Ansonsten hätte er sie in seiner Rede wenigstens namentlich erwähnt, denn die Planung war mit keinem Projekt zu vergleichen, bei dem er mitgearbeitet hatte.

Mit einem kecken Funkeln in den Augen riss Nela ihn aus seinen Gedanken. »Corvin Zimmermann ist Zimmermann. Spannende Berufswahl.« Sie lachte leise in sich hinein.

Er blieb an ihrem fröhlichen Schimmern in den Augen hängen. »Man tut, was man kann.«

Sie zuckte mit den Schultern. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Leider war gerade keine Lehrstelle frei.«

Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf leicht schief, ehe er begriff und loslachte. »Hm, Königin, nicht schlecht. Aber beworben hast du dich?«

Jetzt war es an ihr zu lachen. »Nach der Absage von Schweden habe ich aufgegeben.«

Er nickte gespielt ernst, gönnte sich einen Schluck Bier – es war schon fast leer – und sah dann wieder ihren wippenden Fuss. Einer Eingebung folgend hob er die Hand und sah sie offen an. »Möchtest du tanzen?«

Ihr Blick schnellte nach oben, die Augen aufgerissen. Die freudige Stimmung zwischen ihnen splitterte und hinterliess einen Scherbenhaufen, der sich drohend zwischen ihnen aufbaute. Nelas dunkle Augen schimmerten im gedämpften Licht. Zitterte sie? Sie schluckte, lehnte sich zurück und drehte den Oberkörper weg. Ihre Finger klammerten sich an den Stiel des Sektglases, bis dieses noch stärker zitterte als sie.

»Ein Tänzchen in Ehren sollst du nicht verwehren«, versuchte er es mit einem leisen Wink, dass man eine Aufforderung zum Tanz nicht einfach ablehnte. Dabei wusste er gar nicht, ob sie eine Tänzerin war und die Regeln kannte. Aber anhand ihrer Reaktion konnte er sich diese Fragen selbst beantworten.

Es war nicht der geeignete Ort. Wenn Nelas Chef sie tanzend auf einer Einweihungsfeier entdeckte, würde sie am nächsten Tag die Kündigung erhalten – so schätzte Corvin den selbstgefälligen Mann zumindest ein. Dennoch hatte er das Gefühl, dass Nela etwas mit dem Tanzen verband. Allein die Art, wie sie sich bewegte, ihr leichter Hüftschwung, wenn sie ging. Ihr Fuss hatte gewippt, vielleicht hatte sie gar mitgesummt.

Jetzt stand Entsetzen in ihrem Blick, der Mund offen. Zu einer Statue erstarrt, konnte sie sich nicht regen, brachte kein Wort über die Lippen. Es brachte wohl nichts, ihre Hand nehmen zu wollen, egal, wie sehr er sich das Leuchten ihrer Augen von heute Morgen zurückwünschte. Er wollte es wieder sehen.

Für einen winzigen Moment fragte er sich, wieso er sie überhaupt gefragt hatte, warum er dachte, dass sie tanzen wollte.

Ohne ein Wort zu sagen, rutschte Nela vom Stuhl, stellte ihr Glas hart auf den Tisch und eilte in ihren hochhackigen Schuhen direkt auf den Ausgang zu. Es glich einer Flucht, wie sie ihren Mantel nahm, den Schal um den Hals wickelte und sich in den kalten Novemberabend stürzte.