Prolog
Kaer schlich sich von seiner Gruppe weg, um sich am Waldrand nach möglichen Lebenszeichen umzusehen. Bei jedem Angriff gab es Überlebende, und das war auch gut so, denn sie würden erzählen, was er angerichtet hatte.
Eine Welle aus Stolz rollte durch ihn hindurch, doch der Schmerz folgte ihr – und blieb.
Als er den gestrigen Angriff mit seinen Mitstreitern geplant hatte, hatte er gehofft, jedes einzelne Herz in Erming zum Stillstand zu bringen. Stunden-, wenn nicht gar tagelang hatten sie die ideale Anordnung der Bomben diskutiert, sich überlegt, welche Trupps wann wo sein mussten, um den Rückzug zu sichern und jeden Widerstand niederzukämpfen.
Die Planung begründete nicht nur ihren durchschlagenden Erfolg, den sie in Erming verbucht hatten, sondern würde ihnen bei zukünftigen Anschlägen helfen. Sämtliche Städte waren ähnlich aufgebaut, sie mussten nur bei jedem Ort jemanden finden, der ihnen Einlass gewährte.
Sie brauchten einen weiteren Blutengel, um Zugang zu den anderen Städten zu erhalten, sagten seine Mitstreiter.
Ihm stiess das Wort sauer auf. Aelys war kein Blutengel, sondern ein unglaublich faszinierendes Wesen, das sein Herz erobert hatte wie er Erming.
Kaer presste die Lippen aufeinander, als er auf einen Stein kletterte, um über die Ebene zu blicken. Noch war es dunkel. Falls jemand ein Feuer gemacht hatte, würde er es unweigerlich sehen. Trotz der frühen Stunde fühlte er sich ausgeruht. Die nächtlichen Albträume, die ihm das Albpferd sonst immer geschickt hatte, waren ausgeblieben, als wäre es zu weit entfernt oder hätte sich ein neues Opfer gesucht. Manchmal schätzte es die Abwechslung, andere Mahlzeiten zu geniessen.
Wie er hoffte, dass sie überlebt hatte. Der Gedanke, für ihren Tod verantwortlich zu sein, zerstörte ihn innerlich. Wie dumm war er gewesen zu denken, dass sie umschwenken würde? Er war ihr nicht so wichtig wie sie ihm.
Kaer senkte den Blick auf seine Hände, schloss die Augen. Brion hatte recht, er musste mit ihr sprechen. Er wollte sich ihr erklären, ihr von seiner Sicht erzählen. Sich entschuldigen.
Doch was sollte er tun, wenn sie unter Ermings Trümmern begraben lag? Seine Schuld würde er nie tilgen können.
Mit einem schweren Atemzug erhob sich Kaer. Wenn er sie finden wollte, musste er sie suchen.
Langsame Schritte brachten ihn näher an die Stadt heran, näher an die Leute, die alles dafür tun würden, ihn zu erdrosseln, zu vierteilen oder ihn auf eine andere brutale Art dem Sterben näher zu bringen. Nur das Albpferd war in der Nähe, er spürte seine Anwesenheit am Rande seines Bewusstseins. Langsam kam es auf ihn zu. Noch hatte er nicht herausgefunden, wie die Verbindung genau funktionierte, doch sie war da. Deshalb sprach er auch von seinem Albpferd.
Ein entfernter Schrei hallte durch die Luft, und er blieb stehen. Hatte er sich das eingebildet? Er hätte schwören können, dass das Aelys gewesen war, die Hilfe brauchte. Sein Herz raste, als hätte er einen anstrengenden Kampf hinter sich.
Einen Kampf gegen sie.
In seinem Brustkorb zog sich alles zusammen. Einbildung. Er bildete sich das nur ein. Er durfte sich von seinem Ziel nicht abbringen lassen, nur weil er dachte, dass Aelys noch am Leben war. Am besten löste er sich von ihr und all dem, was ihn mit ihr verband. Selbst wenn sie nicht gestorben war, würde sie ihn jagen, bis er elendig verblutet vor ihr am Boden lag.
Lieber ich als sie.
Was für eine Scheisse dachte er denn da? Er schüttelte den Kopf und beschleunigte seine Schritte. Nicht nur die Gedanken, auch seine Gefühle musste er hinter sich lassen. In einer Welt wie der seinen hatten sie nichts zu suchen, sondern standen nur im Weg.
Ein Schnauben half ihm, aus der eigenen Dunkelheit zu finden. Mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen drehte er sich zum Albpferd um und strich ihm von den Nüstern über die Stirn, um dann seinen Kopf gegen den des mächtigen Unwesens zu lehnen.
»Wie hat es nur so weit kommen können?«, fragte er leise.
Das Albpferd schnaubte, schubste ihn.
Obwohl Kaer nicht danach war, brach ein leises Lachen aus ihm hervor. »Was soll ich denn da?«
Wieder schubste das Pferd ihn. Stirnrunzelnd drehte er sich in die Richtung, in die es ihn wies. Er konnte sich nicht erinnern, dass es schon einmal solch ein Verhalten gezeigt hatte.
Da sah er sie: die Flügel. Wie dunkle Vorboten eines nahenden Gewitters hoben sie sich gegen die Umgebung ab, die im Licht des nahenden Morgens heller war als die Schwingen.
Sein Herz machte einen Satz und sackte dann in die Hose.
Sie lebte!
Sie lebte.
Aufbruch
Eine schwarze Klaue bohrte sich in meinen Rücken durch meine Brust. Die Spitze drang durch meine Haut, teilte die Rippen. Zuvorderst pochte mein aufgespiesstes Herz. Blut floss heraus, zuerst viel, dann immer weniger, bis die Schläge erstarben. Meine Lunge versuchte zu atmen, doch ohne das Herz, das den lebensnotwendigen Sauerstoff durch meinen Körper pumpte, konnte sie sich nicht bewegen. Ich schaffte es nicht einmal, meine Augen abzuwenden, obwohl ich nichts lieber getan hätte.
Kälte. Und Schwärze. Sie mischten sich zu einem undurchdringlichen Chaos, wirbelten umeinander herum und füllten mich ganz aus. Ich wusste nicht mehr, wo ich begann und wo die Nacht endete, und umgekehrt. Ich verschmolz mit der Dunkelheit, wurde zu ihr.
Blutengel.
Ich schrak auf. Ein Schrei hallte in einer fernen Ecke meines Bewusstseins nach. War ich das gewesen?
Während ich noch nach Luft rang und die Angst in meinem Herzen einzuordnen versuchte, fuhr ich mit der Hand über meine Brust. Die Rippen schienen alle noch heil, wenigstens, soweit man sie nach so vielen alten Brüchen noch heil nennen konnte.
Ich rappelte mich auf und sah mich um. Auf einer freien Fläche hatten wir unser Lager aufgeschlagen. Eine Gruppe von fünfzehn Menschen und knapp doppelt so vielen Gefallenen, die sie in der Hoffnung auf ein neues Zuhause mit Rechten in die nächste Stadt begleiteten.
Mein Schrei schien einige geweckt zu haben, denn im fahlen Mondlicht erkannte ich das eine oder andere Augenpaar, das mich verfolgte, als ich meine schwarzen Flügel ausbreitete und mich vom Lager entfernte. Ich brauchte Abstand, um nachzudenken.
Meine Schritte führten mich zu einem Stein, der sich einsam aus der Ebene erhob. Ich setzte mich darauf, sodass ich Erming und die Überlebenden des heutigen Kampfes im Blick hatte. Das Lager konnte ich in der Dunkelheit erahnen. Sollte jemand angreifen, wäre ich sofort dort.
Ich seufzte leise. Niemand würde angreifen, nicht einmal Kaer und sein Gefolge. Sie rechneten nicht damit, dass jemand überlebt hatte, so, wie sie die Bomben platziert hatten.
Erming war eine blühende Stadt gewesen, die so nicht hätte untergehen müssen, wäre ich nicht gewesen.
Ich stiess den Gedanken weit von mir, griff einen Kiesel auf dem Stein und warf ihn wütend in die Leere der Nacht. »Verdammte Scheisse!«
Ein Schnauben riss mich zurück in die Gegenwart. Ich wirbelte herum, noch in der Drehung zog ich mein Schwert. Als ich das Albpferd erkannte, entspannte ich mich. »Ach, du bist es nur.« Mir gelang sogar ein Lächeln.
Dabei war ich mir nicht so sicher, ob es nur das Albpferd war. Es gehörte Kaer, von dessen Albträumen es sich ernährte. Ein Wesen der Nacht, das die Menschen gezüchtet hatten.
»Hat dir die Ration geschmeckt, mein Guter?« Ich hatte ihm meine Träume versprochen, wenn er mir helfen würde. Das Pferd hatte seine Arbeit getan, nun war ich offenbar an der Reihe. »Das heisst dann wenigstens, dass du mich verstehst. Jedenfalls das, was ich sage.«
Ich strich ihm über die Nüstern. Mit einem weiteren Schnauben schmiegte es sich an meine Hand und stiess mich, als wollte es nicht nur meine Albträume, sondern ein Stück von mir fressen. Oder als wollte es mich begrüssen.
Leise lachte ich auf. »War es so schlecht? Glaub mir, ich fand es beängstigend.« Wenn ich ehrlich war, pochte mir das Herz immer noch bis zum Hals und schnürte mir die Kehle zu.
»Das hat er bei mir auch gemacht.« Die tiefe Stimme fuhr mir durch alle Glieder.
Sofort hielt ich mein Schwert wieder in der Hand. Diesmal würde ich es nicht so einfach wieder zurückstecken.
Kaer hob die Hände seitlich an und zeigte damit, dass er unbewaffnet war. Oder er wollte mich schon wieder in die Irre führen.
»Lauf! Geh weg und komm nie wieder zurück. Noch einmal lasse ich dich nicht entkommen!« Meine Stimme zitterte, doch meine Hand bewegte sich keinen Millimeter. Wenn es ums Töten ging, war ich kein unfähiges Mädchen, das sich von ein paar Blutspritzern abhalten liess. Das sollte auch er endlich erkennen.
Seine Mundwinkel zuckten. Jedenfalls bildete ich es mir in der nächtlichen Dunkelheit ein. »Ich glaube, wir sollten reden.«
»Ich glaube nicht.«
Mit einem leisen Seufzen liess er die Arme sinken. »Wirklich? Ist es das, was du möchtest?«
Ich wusste nicht, was er meinte. Er könnte Erming betrachten, mich oder das Lager. Ich wusste es nicht. Hinter seiner Maske aus warmem Metall erkannte ich selbst bei Sonnenlicht nicht einmal eine Augenfarbe.
»Seit wann interessiert es dich, was ich will?« Ich blinzelte die Tränen weg, als ich an seinen Vertrauensmissbrauch dachte, wie er mich bezirzt und in die Irre geführt hatte. Die Zeit war vorbei. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. »Du hast dein Ziel erreicht. Geh weg. Tritt mir nie wieder unter die Augen. Das ist es, was ich will.«
Von der Härte in meiner Stimme war nicht nur ich überrascht. Er kratzte sich am Nacken, wandte den Kopf ab. »Aber du … Ich … Wir …«
Ich hatte geglaubt, dass es ein Wir geben könnte, doch das hatte er zerstört. »Wenn es dich wirklich kümmert, was ich will, dann verschwindest du augenblicklich. Ich will dich nie mehr wiedersehen.«
Für einen Moment erstarrte er, und ich kaufte ihm seine Überraschung sogar ab. Als er sich wieder in Bewegung setzte, verflog auch das leise Mitgefühl in meinem Bauch. Er hatte den Tod meiner Eltern und vieler Menschen billigend in Kauf genommen, um seine Rache auszuleben.
Und dennoch schmerzte es, ihm zu sagen, dass ich ihn nicht wiedersehen wollte. Dass er für mich gestorben war, so wie meine Eltern. Er hatte mich beleidigt und verletzt, mit meinen Gefühlen für meine Eltern gespielt und sie als Geiseln genommen, um mich herauszufordern, als wäre ich ein Unwesen, das er verarschte, um sich daran zu erfreuen.
So ein verlogener, armseliger Bastard.
Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, musste ich mir eingestehen, dass mich sein Verhalten tiefer und heftiger traf als der Tod meiner Eltern. Sie hatten mich schon früh verlassen und sich nicht für mich eingesetzt, als ich es am meisten gebraucht hatte. In einer Ecke meines Herzens hatte ich stets gehofft, dass sie mich zurückholen würden. Doch vom ersten Tag an war mir klar gewesen, dass dies nicht passieren würde. Sie hatten ihr Leben über meines gestellt.
Kaer räusperte sich. »Wieso bist du so wütend? Sie wollten dich nicht, weil du anders bist. Sie haben es nicht besser verdient!«
Ich breitete die Flügel aus, sodass sie den grössten Teil des spärlichen Lichts noch schluckten. Mit zwei Sätzen war ich bei Kaer, wirbelte herum. Das Schwert schnitt durch Kleidung und blieb irgendwo hängen. Durch den Schwung wurde er zu Boden gerissen. Schwer atmend kam er auf dem Rücken auf und blickte mich mit schreckgeweitetem Mund an. Diesmal sah ich die Angst in seinem Blick, trotz seiner Maske und des wenigen Lichts. Ich roch sie.
Geschah ihm recht.
Ich zielte mit dem Schwert auf seinen Hals. Der Kehlkopf hüpfte, als er schluckte. Ich war mir sicher, dass er sich in diesem Moment wünschte, mich nie getroffen zu haben.
Langsam breitete er die Arme seitlich aus. Er blieb einfach liegen, sah mich an. »Wenn es dir danach besser geht, dann töte mich.«
Wahrscheinlich kannte er mich gut genug, um zu wissen, dass es mir danach nicht besser gehen würde. Im Gegenteil. Doch das würde ich ihm sicher nicht auf die Nase binden.
Mit einem missmutigen Brummen wandte ich mich ab, steckte das Schwert zurück in die Scheide und liess ihn und das Albpferd hinter mir. Ein weiteres Mal würde ich nicht zögern, ihn zu töten. Das war eine letzte Warnung meinerseits gewesen, und ich glaubte, dass er das begriffen hatte.
Ich stapfte zurück zum Lager, in dem Bertimi mich bereits erwartete. Als er mich entdeckte, zog er die Augenbrauen zusammen und erhob sich, sodass wir etwas abseits der anderen Überlebenden sprechen konnten.
Sein wacher Blick durchbohrte mich. »Was ist los, Aelys?«
Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass alles in Ordnung war, doch ihm konnte ich nichts vormachen. Ich wollte gar nicht zählen, wie oft er mir gesagt hatte, dass ich eine miserable Lügnerin war. Daran hatte sich auch in den letzten Wochen nichts geändert.
Ich zwang mich, seinem besorgten Blick mit einem Lächeln zu begegnen. »Nur ein paar Unwesen, die mich erschreckt haben.« Ich drängte mich an ihm vorbei, um weiteren Fragen auszuweichen, doch er hielt mich am Oberarm zurück.
»Wieso warst du überhaupt allein da draussen? Es ist gefährlich.« Bertimi zog die Augenbrauen noch ein kleines Stück enger zusammen, sodass sie sich in der Mitte beinahe berührten.
»Ich hatte einen Albtraum und musste raus. Abstand.« Ich befreite mich aus seinem Griff und liess ihn stehen.
Obwohl ich wusste, dass er es gut meinte und sich um mich sorgte, brauchte ich im Moment wirklich Abstand. Von der Zerstörung, von Kaer, von meinen Gedanken. Ich ertappte mich sogar dabei, dass ich mich zurück in die Katakomben wünschte, auch wenn ich sie so lange nicht gemocht hatte. Sie hatten mich hart und unnahbar gemacht, eine kalte Kriegerin, die als Blutengel bekannt war.
Die kurze Zeit ausserhalb der Katakomben hatte mich schwach werden lassen. Ich hatte tatsächlich geglaubt, dass ich ein besseres Leben haben könnte. Nun hoffte ich, dass auch die nächste Stadt Katakomben hatte, in die ich mich zurückziehen konnte. Dann hätte ich wieder ein geordnetes Leben und müsste nicht mehr denken, dass ich nur eine Spur der Zerstörung hinter mir herzog.
Wenn wir es in die nächste Stadt schafften, hätte ich Leben gerettet. Obwohl ich die Augen nicht mehr schloss, durchströmte mich bei dem Gedanken eine unbekannte Wärme im Bauch.