Nordlichtzauber und Schneegestöber (Leseprobe)

Abschied

 

Gedankenverloren starrte Arina zum Fenster hinaus, während sie das Handy an ihr Ohr gedrückt hielt. Grauer Novembernebel hüllte die sich davor ausbreitende Landschaft ein, versteckte sie vor ihr. In Arinas Erinnerung war sie immer in warmes Sonnenlicht getaucht gewesen, selbst wenn es wie aus Kübeln gegossen hatte. Nun wich auch der letzte Hoffnungsschimmer aus ihrem Leben.

Sie presste die Lippen aufeinander und umklammerte den Schlüsselbund mit den sechs Schlüsseln, den sie wie ein Kleinod die letzten knapp zweieinhalb Jahre aufbewahrt hatte. Den sie jeden Tag gebraucht hatte. Sich gesorgt hatte, nicht nur um die Schlüssel, sondern um all das, was sie bedeuteten. Sie sorgte sich viel mehr um das, was sie bedeuteten, als um das Metall.

Sowohl die Schlüssel als auch sie waren verloren.

Sie ignorierte den eiskalten Stich in ihrer Brust, der ihr einreden wollte, dass es einfacher war, dem Sturm in ihrem Inneren nachzugeben als ihm die Stirn zu bieten.

»Arina?«

Wie hatte das nur passieren können? Erst war alles wie am Schnürchen gelaufen. Die Kunden hatten an ihre Tür geklopft, waren glücklich gewesen, und wie aus dem Nichts erschienen diese Bilder, die Schlag für Schlag alles zertrümmerten, was sie sich aufgebaut hatte.

»Arina, hörst du mir überhaupt zu?« Katrins besorgte Stimme durchbrach ihr Gedankenkarussell, in dem sie seit Stunden gefangen war. Tagen. Wochen. Vielleicht schon seit einem halben Jahr.

Arina räusperte sich, verlagerte das Gewicht auf das andere Bein. »Ja, klar.«

»Also, was willst du jetzt tun?« In die Worte ihrer Patentante schlich sich eine Wärme, wie sie nur ein Zuhause verströmen konnte. Katrin wusste, was ihr ihr Traum bedeutet hatte und welches Loch der Verlust in ihr Leben riss.

Arina seufzte leise. »Meinst du, was ich tun will oder tun muss?« Sie gab Katrin keine Zeit, eine Antwort zu finden. »Ich will die Schlüssel nicht abgeben, aber ich werde es tun. Weil ich es muss. Mir bleibt keine andere Wahl.« Allein der Gedanke daran, ihren Traum einfach so aufzugeben – mit dem Abgeben von Schlüsseln! – und wegzusperren, drohte ihr Herz in zwei Hälften zu brechen. Sie sagte den aufsteigenden Tränen den Kampf an, indem sie heftig schluckte.

Schwer atmete Katrin aus. »Du wirst es schaffen. Du bist eine starke, bewundernswerte Frau, die alles Glück im Leben verdient hat.«

Die liebevollen Worte vernichteten alle Mühen, die Tränen zurückzuhalten. Die Trauer überwältigte sie wie ein wildgewordener Haufen Welpen. Nur nicht süss, sondern brutal, und ohne Rücksicht zu nehmen. Hilflos schniefte Arina. »Aber warum ist es dann passiert?« Das Zusammenbrechen ihrer Träume und der Verlust ihrer Arbeit gehörten nicht zu allem Glück der Welt.

»Ach, Arina. Manchmal geht das Leben wilde Wege und lässt uns verzweifeln. Vertrau ihm, dass es noch Gutes für dich bereithalten wird. Vielleicht war der Verlust notwendig, damit du einen neuen Weg einschlagen kannst.«

»Ich will keinen neuen Weg einschlagen«, maulte Arina. Früher hatte sie es geliebt, dass Katrin fast nichts aus der Ruhe bringen und verärgern konnte. Doch in diesem Moment wünschte sie sich jemanden an ihrer Seite, der sie in den Arm nahm und mit ihr über die Ungerechtigkeit des Lebens jammerte. Der genau verstand, wie sie sich fühlte, und dass sie auf der ganzen Welt gerade keinen Sonnenstrahl mehr finden konnte.

»Ich weiss, ich weiss.« Katrin seufzte und zögerte die weiteren Worte hinaus, bis sie schliesslich sanft weitersprach: »Du wirst deinen Weg finden und gehen, früher oder später. Solche Rückschläge brauchen Zeit und deshalb … Vielleicht kommst du uns besuchen? Tapetenwechsel sozusagen. Ich vermisse dich wirklich, Arina.«

Arina lauschte den Worten, wollte sie packen und für immer festhalten, denn sie waren ein kleiner Lichtblick in einem Meer aus dunklen Schatten, in dem sie sich gefangen fühlte. Egal, wie sie strampelte und schwamm, früher oder später würde sie untergehen, wenn sie sich nicht an diese verschwindend kleine Hoffnung klammerte.

»Denkst du über meinen Vorschlag nach?«

»Welcher Vorschlag?«, hakte Arina nach.

»Arina!« Allein der Klang von Katrins Stimme beschwor in Arina ihr Bild herauf, wie sie mit in die Hüfte gestemmter Hand dastand, die Augenbrauen zusammengezogen, sodass sich ihre ansonsten faltenarme Stirn kräuselte. In der Mitte bildete sich eine Furche, die Arina früher ziemlichen Respekt eingeflösst hatte. Bei dem lebendig wirkenden Bild in ihrem Kopf huschte ein schwaches Lächeln über Arinas Gesicht. Schwer seufzte Katrin. »Ich würde mich freuen, wenn du mich besuchen kommst. Ich meine, bald ist Weihnachten, und wir haben uns schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

Sehnsucht packte Arinas Herz und riss es fort, um es zu ihrer Patentante zu locken, und zwar sofort. Einfach zum Flughafen fahren, in den nächsten Flieger nach Island steigen und davondüsen. Dummerweise lebte Katrin auf einem Pferdehof, der Arina Tag für Tag an ihr Scheitern erinnern würde.

Sie rief sich zur Vernunft, stellte sich aufrechter hin. Nein, sie durfte nicht aufgeben und sich verstecken. Sie musste um das kämpfen, was ihr geblieben war. Nur … was war ihr geblieben? Nichts.

»Mal schauen«, antwortete sie ausweichend. In der Ferne erkannte sie den dunkelgrünen Subaru des Vermieters, der in die Zufahrtsstrasse einbog. Nun war es also so weit: Sie musste die Schlüssel zu ihrem Traum abgeben. Arina atmete tief ein. »Ich muss los. Der Vermieter kommt. War schön, mit dir zu plaudern.«

»Du überlegst es dir, ja?«, beeilte sich Katrin zu sagen.

»Ja klar«, versprach sie halbherzig, verabschiedete sich und legte auf. Sie liebte Katrin wie ihre eigene Mutter, an die sie sich nur bruchstückhaft erinnerte. Allerdings wollte sie sich im Moment einfach nur verkriechen und sich nicht mit den Sorgen anderer herumschlagen. Die Welt für einige Wimpernschläge Welt sein lassen. Mit Katrins Wünschen fühlte sie sich im Moment eher bedrängt, überfordert, selbst wenn sie in Island lebte.

Arinas Blick schweifte durch den Stall. Obwohl kein Pferd mehr in den hellen, grossen Boxen stand, roch es noch immer nach den edlen Tieren. Sie alle waren leer, genau wie sie.

Leer.

Kalt.

Tot.

Schritt für Schritt ging sie den Gang entlang. Da, die Holzbalken, auf denen sie Sattelzeug und Decken, Striegel und Bürsten hingelegt hatte, wenn sie ein Pferd für einen Ausritt vorbereitet hatte.

In einer der Boxen zu ihrer Rechten hatte Neptun, der vorwitzige Hengst mit dem schreckhaften Gemüt, eine Mauerschwalbe zu spät gesehen und ausgeschlagen, sodass eine Kerbe im Holz zurückgeblieben war.

Das kleine Shetlandpony Teddy hatte immer den anderen Pferden das Heu aus den Raufen gezupft, obwohl er selbst immer nur wenig davon gegessen hatte. Ihm waren Hafer und frisches Gras lieber gewesen. Manchmal war Arina den Eindruck nicht losgeworden, dass Teddy die grossen Pferde ärgern wollte.

Mitten im breiten, leeren Gang blieb sie stehen. Sie verband so viele Erinnerungen mit diesem Ort. Was auch immer die Welt und alle Zeitungen über sie sagten und zu wissen glaubten, das Wohl der Tiere hatte ihr immer am Herzen gelegen. Sie hatte sich um sie gekümmert, hatte den Tierarzt auf eigene Kosten bestellt, wenn die Besitzer es nicht tun wollten, und hatte viele Freunde gefunden.

Ein erzwungenes Lächeln huschte über ihr Gesicht, gleichzeitig verschwamm das Holz der Boxen mit den Türbeschlägen vor ihren Augen.

Es war vorbei.

Arina schluchzte auf, gab dem inneren Druck ihrer Tränen nach. Seit einem halben Jahr tauchten Zeitungsartikel auf, die die angeblich unhaltbaren Zustände auf ihrem Pferdehof dokumentierten. Bilder von ausgemergelten Tieren huschten durch ihre Erinnerungen, blutiges Stroh, kranke Pferde, drei sich bekämpfende Ponys auf einer viel zu kleinen Koppel. Bilder, die sie in echt nie gesehen hatte. Jemand hatte sie gefälscht und ihr damit willentlich geschadet, hatte die Presse und das Veterinäramt getäuscht, bis sie alles verloren hatte. Die Kunden hatten die Verträge gekündigt, neue waren keine mehr gekommen. Erst hatte sie die Aushilfe entlassen, dann sich selbst keinen Lohn mehr ausbezahlt, damit sie ihren Traum behalten konnte. Gereicht hatte es nicht. Nun war es aus. Für immer.

Entschlossen wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen, blinzelte und schritt aus. Wie Katrin gesagt hatte: Es ging zu Ende, und sie konnte nichts dagegen unternehmen, ausser es möglichst schnell hinter sich zu bringen.

Als sie das Eingangstor erreichte, stieg Frank, der Vermieter, aus seinem Wagen. Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und drehte sich zum Stall um. Noch ein letzter Blick, einmal noch die Stallluft atmen, die Pferde wiehern hören, auch wenn es nur ihre Erinnerung war.

Etwas in ihr riss. Es war ein unterschwelliges Geräusch, eines, das kaum zu hören war und sich dennoch durch ihr ganzes Sein zog, wie eine verborgene Gletscherspalte. Sie hatte ihren grössten Traum verloren. Gab es nach so einem Rückschlag jemals wieder Hoffnung?

Sie würde ein neues Leben beginnen. Irgendwann. Ein anderes. Es würde nicht schöner werden als das Leben, das sie gelebt hatte. Bis an ihr Lebensende würde sie sich fragen, was sie hätte besser machen können. Ob es einen Weg gegeben hätte, die Katastrophe zu verhindern.

Arina zog die breiten Tore zu, steckte einen der sechs Schlüssel in das Schloss und drehte ihn. Nur einen Wimpernschlag verharrte ihr Blick auf ihren Händen. Die Konturen verschwammen. Unwirsch wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Obwohl sie Frank schätzte, wollte sie nicht vor ihm heulen wie ein kleines Mädchen. Mit einem wenig überzeugenden Lächeln drehte sie sich zu ihm um. Die Arme vor der Brust verschränkt, stand er bei seinem Subaru und lehnte sich gegen die Fahrertür.

Sie hielt auf ihn zu und streckte ihm die Schlüssel entgegen. »Hallo, Frank. Ich hoffe, du findest einen besseren Nachmieter.« Sie wünschte es ihm von Herzen, obwohl sie selbst am liebsten dieser Nachfolger gewesen wäre. Der Pferdehof lag ideal, nicht zu weit von Bern entfernt und doch so, dass die Tiere Weiden und Wälder hatten, um sich auszutoben oder um auszureiten.

Frank nickte, als würde er all den Schmerz verstehen, der in ihr tobte. »Ich kann mir keine bessere Mieterin vorstellen als dich. Und ich weiss, dass du das nicht getan hast. Dass sie Lügen verbreiten.« Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich, als er die Augen leicht verengte. »Nicht leicht, was?«

Sie schniefte. Ihrer eigenen Stimme gegenüber misstrauisch, nickte Arina. Sie wollte so viel sagen und blieb doch stumm. Einerseits, weil es für die Schwärze in ihr keine Worte gab, andererseits, weil sich in ihrem Hals ein dicker Kloss gebildet hatte.

Nach einem tiefen Atemzug stiess Frank die Luft aus seiner Lunge. »An deiner Stelle würde ich ein wenig Abstand suchen. Weg von hier. Wenn du bleibst, wirst du nur an das hier erinnert. Das ist nicht schön.«

Das war es nicht, doch darüber wollte sie nicht sprechen. »Danke, Frank. Für alles.«

Wieder nickte er.

 

Arina drehte sich um und ging auf ihren Wagen zu. Mechanisch stieg sie ein, startete den Motor und fuhr los. So einfach war es also, seinen grössten Traum hinter sich zu lassen, und gleichzeitig so unendlich schwer.