Im Bann des Gedankenlesers (Leseprobe)

Der Fremde

 

Als ich ihn das erste Mal sah, sass er schweigend an einen Baum gelehnt auf der trockenen Erde. Seine nackten Füsse ragten in den Heiligen Bach und das klare Wasser plätscherte munter um seine Knöchel. Bis auf das kantige, mit Stoppeln besetzte Kinn verdeckte die Kapuze des nachtblauen Mantels sein Gesicht. Ein Erdendruide. Er schien mir kräftig, jung und dynamisch. Ich stellte ihn mir vor, wie er bei der Initiation spielend dem Hirsch hinterhergejagt war.

Verlegen wandte ich den Blick ab, als ich mich dabei ertappte, wie ich ihn anstarrte. Ich platzte fast vor Neugier. Was hatte der Erdendruide hier zu suchen? Seit Generationen war sein Clan mit unserem zerstritten. Und der Druide sass regungslos, wenn nicht gar seelenruhig neben unserem Heiligtum und schien sich keine Gedanken darüber zu machen. Dabei war der Heilige Bach unser Leben, unsere Riten drehten sich um ihn. Die kräftigsten Tränke wurden aus seinem Wasser gebraut, die grossartigsten Heilungen fanden in ihm statt.

Der Erdenclan wusste das. Auch der Druide am Baum musste das wissen. Ihm musste klar sein, dass wir unser Heiligtum mit unserem Leben verteidigen würden, sobald wir ihn entdeckten – mit den Füssen im Wasser.

Vermutlich hatte er mich schon längst bemerkt. Trotzdem, er rührte sich nicht und wirkte tiefenentspannt. Er war ein ausgebildeter Druide, der sich zu verteidigen wusste, und sah in mir wohl keine Gefahr. Oder er wartete, bis ich nah genug war, um mich anzugreifen.

Ich grinste. Wenn er sich da nur nicht täuschte.

Flink zog ich meinen Langbogen hervor und spannte einen Pfeil auf die Sehne. Meine junge Stute trieb ich vorsichtig voran. Eronja spürte meine Anspannung und schnaubte. Verdammt, hoffentlich hatte er es nicht gehört. Doch der Druide regte sich noch immer nicht, obwohl wir nun kaum zehn Schritt von ihm entfernt waren. Meine Stute hob aufmerksam den Kopf, sog den Duft ihrer Umgebung gierig ein und blies ihn sanft wieder aus. Als sie sich entspannte, liess ich meinen Bogen etwas sinken. Lautlos glitt ich vom Rücken meines Pferdes, federte auf dem Waldboden ab und hielt einen Moment inne. Der Fremde zeigte keine Regung.

Ich holte tief Luft, nahm all meinen Mut zusammen und näherte mich ihm. Noch bevor ich neben ihm stand, hörte ich ihn schwer atmen. Mein Bogen landete samt Pfeil achtlos auf dem Boden, während ich mich neben den Druiden kniete und ihm besorgt die Kapuze vom Kopf zog. Schweissperlen standen auf der kreideweissen Stirn, der Mund war leicht geöffnet, die Lippen trocken und aufgesprengt. Sein Atem ging viel zu unregelmässig und flach.

Ich legte Zeige- und Mittelfinger an seinen Hals, um den Puls zu fühlen, und erschrak. Ein Schnitt, der unterhalb seines rechten Ohres begann, zog sich über die Kehle bis zur linken Halsseite. Ein kurzer Blick auf seine Handgelenke – auch dort waren Schnitte zu sehen.

Sie erinnerten mich an die Art, wie wir unsere Tieropfer darbrachten: Mit einer speziellen Kräutermischung wurde das Tier in Trance versetzt und mit tiefen Schnitten an Hals sowie Hand- und Fussgelenken geopfert. Das Blut floss über den Altar, tränkte den Boden um die Opferstätte herum und sollte den Gehörnten milde stimmen. Ein Opfer zu seinen Ehren.

Ich mochte die Tieropfer nicht. Glücklicherweise kamen sie nur selten vor. Meist wurde ein Teil unserer Ernte – Früchte und Getreide –, manchmal auch ein Fass Wein geopfert. Aber doch keine Menschen!

Der Erdendruide stöhnte kaum hörbar, sein Kopf kippte zur Seite weg. Ich griff nach meinem Beutel, suchte zwei Kräuter hervor und legte sie ihm auf die Zunge. Ohne zu überlegen, rief ich meine Stute und hievte den Fremden unter grösster Kraftanstrengung auf ihren Rücken. Unglaublich, wie schräg ein Mensch auf einem Pferd liegen konnte, ohne herunterzufallen. Dann machte ich mich auf dem schnellsten Weg auf in unser Lager.

Die Wiese zwischen unserem Dorf und dem Wald war gut einsehbar, und so überraschte es mich nicht, dass eine meiner Lehrerinnen und meine Grossmutter mich in Empfang nahmen. Der Unterricht hatte schon längst begonnen. Ich war nicht erschienen, bestimmt hatten sie sich Sorgen gemacht und nach mir gesucht. Normalerweise war ich pünktlich. Nachdem die Lehrerin den Druiden eingehend gemustert hatte, bat sie zwei Priesterinnen zu sich. Gemeinsam zogen sie den Mann vom Pferd und brachten ihn in die Hütte der Heilerinnen.

Meine Grossmutter blieb bei mir, beobachtete das Geschehen und wandte sich dann mir zu. »Komm, Sono, ich habe einige Fragen«, meinte sie ruhig, nahm mich am Arm und führte mich zu ihrer Hütte.

Diese befand sich zuhinterst im kleinen Dorf, unmittelbar neben der Rampe, die zum Lager der Männer hinaufführte. Die meisten hier lebten in kleinen Lebensgemeinschaften und teilten sich eine Hütte sowie das Essen. Nicht so meine Grossmutter. Als ein Mitglied des Rats der Ältesten verfügte sie über ein eigenes Häuschen.

Im Besprechungsraum mit dem runden Tisch und den acht Stühlen holte sie zwei Becher aus dem Regal und setzte sich. Dort stand bereits ein Krug mit lecker duftendem Kräutertee. Sie füllte uns beiden einen Becher und schob mir meinen über den Tisch zu. »Wie geht es dir?«

Ich wusste, sie hatte mich nicht deswegen zu sich bestellt. »Etwas erschöpft, aber gut. Der Druide war nicht sehr leicht«, gab ich mit einem schiefen Lächeln ruhig zur Antwort.

Sie lachte leise und trocken. »Wie immer bringst du es rasch auf den Punkt.«

»Ich sehe keinen Grund, um den heissen Brei herumzureden, wenn es am Ende sowieso zum selben Ergebnis kommt.« Mir war bewusst, dass ich mit meiner Aktion von vorhin gegen mehr als eine Regel verstossen hatte.

»Was ist geschehen?«

Ich überlegte nicht lange. »Ich war mit Eronja unterwegs, als ich im Wald auf den Druiden traf.« Ich verschwieg den genauen Fundort absichtlich. Es hätte dem Druiden – und nicht zuletzt auch mir – nur Probleme bereitet, wenn sie erfahren hätte, dass er seine Füsse im Heiligen Bach gewaschen hatte. Na ja, sozusagen gewaschen. »Er sass an einen Baum gelehnt und atmete kaum noch. Ich habe ihm ein paar Heilkräuter auf die Zunge gelegt. Nur dank Eronja haben wir es überhaupt bis hierher geschafft.«

Meine Grossmutter seufzte. In Momenten wie diesen spürte ich, wie die Verantwortung und der Druck ihr immer mehr zu schaffen machten. Schon seit über einem Dutzend Jahren hatte sie ihren Status als Älteste inne. Sie beriet, entschied, suchte neue Wege und kämpfte gegen alte Vorurteile an. Manchmal fielen ihr die Entscheidungen leichter, meist ging es aber um mehr als nur darum, wer bei Krankheit die Unterrichtsstunde übernehmen sollte. Ihr Haar war schon seit Jahren grau, die Falten zogen Winter für Winter tiefere Schatten in ihr Gesicht. Lange konnte sie dem Druck und ihrem Alter nicht mehr die Stirn bieten. Sie trank einen Schluck Tee. »Wieso hast du ihn gerettet?«

»Wir ehren das Leben. Jegliches Leben, ob Mensch, Pflanze oder Tier.« Als sie Luft holte, um mir zu widersprechen, unterbrach ich sie. »Ausserdem glaube ich nicht, dass wir jemals mit dem Erdenclan Frieden schliessen werden, wenn alle immer so stur bleiben. Ja, sie sind unsere Widersacher und machen uns das Leben schwer, aber dennoch ist sein Leben nicht weniger wert als das meine. Jemand von uns muss den ersten Schritt wagen.«

Abermals entfuhr ihr ein Seufzen. »Dann war dir bewusst, dass du einen Druiden aus dem Erdenclan rettest.« Sie betrachtete mich lange. »Nicht jeder hier sieht es so entspannt, wenn wir einen verwundeten Druiden aus dem Erdenclan gesund pflegen. Und wie erklären wir es denn dem Erdenclan? Vielleicht hast du recht und wir können irgendwann die Fehde mit ihnen hinter uns lassen, aber ich befürchte, noch ist die Zeit nicht reif. Mit ihm in unserem Dorf … Möglicherweise wird er uns verraten oder seinem Stamm erzählen, wir hätten ihn gefangen genommen.«

Jetzt war ich diejenige, die seufzte. »Wir können uns darüber Sorgen machen, wenn er seinem Clan ein Märchen aufgetischt hat. Noch ist er nicht über den Berg. Wir sollten erst einmal zusehen, dass er überlebt. Ansonsten haben wir nicht nur vielleicht ein Problem, sondern ganz sicher.« Ich trank meinen Tee leer.

Die Älteste stand auf und schlurfte mit hängenden Schultern zum Fenster. Eine Weile sah sie hinaus, dann wandte sie sich wieder mir zu. Was gerade in ihrem Kopf vor sich ging, konnte ich nicht mal ansatzweise erahnen. »Ich werde die Angelegenheit mit dem Rat der Ältesten klären. Du kannst jetzt gehen.« Sie rang sich zu einem müden Lächeln durch.

 

Später entfernte ich mich unauffällig von der Unterrichtsgruppe. Meine Mitschülerinnen schnatterten wie wild durch¬einander und freuten sich, einen der letzten warmen Nach¬mittage des Herbstes zu nutzen. Sie wollten zum kleinen See gehen und sich ein Bad gönnen. Eigentlich war dieser Platz für uns Frauen vorgesehen. Den Männern war es verboten, sich in der Nähe aufzuhalten, doch ich wusste, dass sie sich nicht an die Regeln hielten. Gerade wegen der strikten Tren¬nung von Männern und Frauen im Alltag, schien die Versuchung besonders verlockend.

Abgesehen davon hielt ich mich oftmals auch nicht an die Regeln. Ich hätte viel häufiger im Dorf mithelfen müssen, doch ich streifte lieber durch die Wälder oder ging auf die Jagd. Das Jagen war eigentlich die Aufgabe der Männer. Aber es fiel selten auf, wenn ich fehlte und wenn doch, dann waren sie meistens froh, dass ich nicht kochte. Half ich mit, wurde jedes noch so einfache Gericht ungeniessbar.

Im Unterricht hatte niemand etwas über den fremden Druiden gesagt. Ich wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, aber vielleicht konnte mir Gael weiterhelfen. Manchmal fragte ich mich, wie wir uns angefreundet hatten. Bei der peniblen Geschlechtertrennung grenzte es an ein Wunder, dass wir uns überhaupt kannten. Beim besten Willen konnte ich mich nicht daran erinnern, wann wir uns das erste Mal begegnet waren. Mit ihm konnte ich über alles reden. Gael war mein einziger Freund hier. Vielleicht lag es daran, dass wir beide den Wald sehr mochten?

Um zu unserem geheimen Platz zu gelangen, bog ich vom Weg ab, verschwand im Dickicht und durchquerte ein trockenes Bachbett. Dahinter lichtete sich der Wald zunächst etwas, bevor er wieder dichter wurde und an einer steilen Felswand endete. Flink kletterte ich die alte Buche hinauf, die schon in unserer Kindheit dort gestanden hatte, und balancierte auf einem der mittleren, kräftigen Äste in Richtung Felswand. Vom Boden aus waren der Felsvorsprung und der schmale Weg dahinter nicht zu sehen, was uns nur recht war. Vor mir tat sich eine kleine Wiese mit einem Moosbächlein auf. Durch die südliche, beinahe senkrechte Bergflanke und die gezackten Kalksäulen gegen das Tal hin war der Platz völlig geschützt vor neugierigen Blicken, und damit perfekt für unsere verbotenen Treffen.

Gael wartete schon. Er lag im kurzen Gras und kaute seelenruhig auf einem Halm. Seine blonden Haare trug er wie gewöhnlich zu einem Knoten zusammengebunden, unter der braunen Kutte schauten die starken Arme hervor. Kaum trat ich auf die Wiese, öffnete er seine hellblauen Augen und strahlte mich an. Ein glückliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und zeigte seine Wangengrübchen. »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Sie hatten noch viele Fragen zu einigen Pflanzen. Wegen der Dosierung«, erwiderte ich und setzte mich neben ihn. »Es war relativ langweilig. Im Gegensatz zu euch lernen wir viel weniger.« Genauso wie der Alltag im Clan waren auch die Unterrichtsklassen streng nach Geschlechtern getrennt. Manchmal bewunderte ich Gael, der im zarten Alter von fünf Jahren bereits in das Lager der Männer gezogen war. Er hatte mir erzählt, dass alle Jungs und zwei der jüngeren Priester in einer grossen Hütte wohnten. Seine Mutter sah er seither jedes Jahr nur wenige Male, meist zu speziellen Anlässen. »Bei dir?«

»Ach, nichts Neues. Die Tag-Nacht-Gleiche ist nun das Thema überhaupt. Es gibt viel zu organisieren.« Er nahm den Halm aus dem Mund und drehte ihn in der Hand. »Ich konnte mich bisher vor den grossen Aufgaben drücken. Loic hat wie immer den Kürzeren gezogen. Er muss das Holz für die Feuerstellen und die Opferfeuer zusammentragen. Zusätzlich soll er die Opfergaben koordinieren. Sie überlegen, wieder ein Tieropfer zu bringen. Vielleicht eine Ziege oder ein Reh.«

Das erinnerte mich an den Erdendruiden. »Weshalb?«

Er setzte sich auf und schaute mich durchdringend an. »Wegen deines Druiden.«

Ich hatte nicht erwartet, dass es sich so schnell herumsprach. Sein Blick ruhte noch immer auf mir, als ob er etwas erwartete. Da ich trotz des langen Schweigens nichts erwiderte, erklärte er ruhig: »Es stellt uns vor eine grosse Aufgabe. Einerseits stehen wir mit dem Erdenclan seit Generationen auf dem Kriegsfuss. Auch wenn wir uns keine offenen Schlachten leisten können – weder wir noch sie –, so gehen wir einander aus dem Weg und meiden jeglichen Kontakt. Ein falsches Wort oder eine unbedachte Bewegung und der schwelende Konflikt würde wieder aufflammen. Vermutlich würden beide Clans daran zugrunde gehen.« Er überlegte einen Moment. »Normalerweise wäre es vermutlich sogar ein Schritt in Richtung Frieden – oder wenigstens näher an eine Beruhigung der Situation –, wenn man einen Druiden des anderen Clans rettet, aber es gibt da ein paar Ungereimtheiten. Der Druide ist stark geschwächt und steht an der Schwelle zur Anderswelt. Was, wenn der Erdenclan uns dafür verantwortlich macht? Wir können nicht abschätzen, ob es eine Falle ist. Vielleicht hatte es so kommen sollen, vielleicht spioniert uns der Druide aus, um im entscheidenden Moment anzugreifen.« Er machte eine kurze Pause. »Zum Beispiel bei der Tag-Nacht-Gleiche.«

»Das glaube ich nicht. Ich glaube eher, dass er ein Opfer ist.« Ich spürte Gaels bohrenden Blick. »Er hatte Schnitte an den Handgelenken und am Hals.« Ich machte eine kurze Pause. »Er war ein Opfer.« Erst jetzt wagte ich es, Gael anzusehen. Er starrte mich mit offenem Mund und aufgerissenen Augen fassungslos an.

»Wer macht so etwas? Ich meine, wer opfert einen Menschen?«

»Genau das habe ich mich die ganze Zeit gefragt.«

Trotz der schockierenden Nachricht lachte er kurz auf. »Vermutlich war der Unterricht deshalb so langweilig.«

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jemand ist sehr verzweifelt, wenn er bereit ist, einen Menschen zu opfern. Ich kenne keinen Clan, der so etwas tun würde. Die Feuerdruiden bringen nicht einmal Tiere als Opfer dar, Rave hat es mir erzählt. Der Erdenclan … Ich kann es mir nicht vorstellen. Oder hast du schon mal etwas davon gehört?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber es ist bekannt, dass in der Geschichte der Stämme immer wieder Menschen geopfert wurden. Manchmal aus Not und Verzweiflung, manchmal wegen eines verrückten Oberhaupts und manchmal, ganz selten, weil der Gehörnte oder die Göttin es befohlen haben.« Gemeinsam schwiegen wir und hingen unseren Gedanken nach. »Wie hat die Älteste reagiert?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe es ihr nicht gesagt.«

»Wolltest du es verheimlichen?«

Ich stutzte. Wollte ich das? Ich hatte mich bewusst dagegen entschieden, ihr von meiner Beobachtung zu berichten. Weshalb ich ihr nicht davon erzählt hatte, war mir schleierhaft. Meine Grossmutter würde es früher oder später sowieso erfahren, vermutlich wusste sie es schon. Die Heilerinnen mussten der Ältesten ausführlich Bericht erstatten, was sie bestimmt schon getan hatten. Ich wollte den Druiden schützen, aus welchem Grund auch immer.

»Frag mich bitte nicht warum«, ich hatte ja selbst keinen blassen Schimmer, »aber ich glaube, da steckt mehr dahinter. Mein Gefühl sagt mir, dass wir uns gut um ihn kümmern sollten.«

»Gefällt er dir?« Er lachte leise in sich hinein und sah mich aus seinen strahlend blauen Augen verschmitzt an. »Hättest du ihn nicht lieber geküsst, als ihn zu retten? Man munkelt, seine Aura überwältige alle Frauen und er könne sie nur durch einen Blick zu seinen Sklavinnen machen.«

Ich lachte laut los. Er schaffte es immer wieder, mich aufzumuntern. Gael tat mir so gut. »Vielleicht habe ich ihn ja schon geküsst?«, witzelte ich weiter.

Er hielt überrascht inne. »Hast du?«

Wieder lachte ich befreit auf. »Denkst du, ich würde dir davon erzählen, damit du es brühwarm weiterplaudern kannst?«

Er spielte den beleidigten Freund, bevor er nachdenklich erwiderte: »Ich würde es dir von Herzen gönnen.«

Überrascht sah ich ihn an. Seine himmelblauen Augen erwiderten meinen Blick offen und ehrlich, selten erlebte ich ihn derart verletzlich. Nie hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, was er sich für mich wünschte. »Danke«, stammelte ich verwirrt.

Er wandte den Blick ab. »Du bist etwas ganz Besonderes. Dein ebenmässiges Gesicht mit den vollen Wangen, braune, leuchtende Augen und Haar wie dunkle Seide. Du triffst mit dem Bogen besser als unser Lehrer, verteidigst dich wie ein Mann. Deine Fähigkeiten zum Heilen übertreffen die der meisten ausgebildeten Druiden. Du kümmerst dich um Obstbäume, züchtest sogar neue Apfelsorten. Du beobachtest Wurzelknollen, schaust dir an, welche zum Essen sind und welche nicht, welche wo wachsen und welche du anbauen kannst, damit wir nicht tagelang suchen müssen, um eine ausreichend grosse Menge zu ernten. Du denkst weiter als bis zum Winter, als bis zum nächsten Frühling oder zum Ende deiner Ausbildung. Du denkst anders, du bist anders. Du bist einzigartig, nur haben es die meisten noch nicht erkannt.« Er machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Ich aber habe es schon beim ersten Treffen erkannt. Deine Aura sprühte schon damals und leuchtete wie ein wildes Feuer. Sie wird nicht schwächer oder zahmer.« Er lächelte glücklich. »Ganz abgesehen davon bist du meine beste Freundin, nur schon deshalb bist du etwas Besonderes für mich.«

Von seinem ehrlichen Kompliment fühlte ich mich völlig überrumpelt. Ich war es gewohnt, ignoriert zu werden, dass mich niemand in der Gruppe ernst nahm, mich niemand beachtete und eigentlich passte mir das auch. Ich war nicht der Typ für das Getratsche, dem sich die meisten der angehenden Priesterinnen in ihrer Freizeit tagein, tagaus widmeten. Ich streifte lieber durch die Wälder. Er hatte recht, ich war anders als sie, aber ich sah mich selbst nicht so speziell. Eher unauffällig.

Er stand auf und reichte mir die Hand. »Komm, wir sollten los, es gibt bald Abendessen.«

 

Im Lager brannten bereits die Feuer, Suppe wurde in grossen Kesseln gekocht und einige Fleischstücke gebraten. Das Wildschwein hatte ich selbst erlegt, aber diesmal trug Gael die Beute nach Hause. Jagte ich zu viel und zu gut, würde der Ältestenrat es mir womöglich noch verbieten. Trotz des verlockenden Duftes und meines knurrenden Magens schlich ich mich im Schutz der anbrechenden Dämmerung zwischen den Häusern zur Hütte der Heilerinnen, in der der Erdendruide untergebracht war. Ich machte mir nicht allzu viele Hoffnungen. Die Kranken und insbesondere solche Spezialfälle standen unter ständiger Beobachtung. Sie würden mich bestimmt nicht zum Druiden durchlassen. Trotzdem war ich neugierig und wollte mich zumindest kurz erkundigen, wie es ihm ging. Davon wissen musste ja nicht gleich das ganze Dorf.

Bei der unscheinbaren Holzhütte angekommen, entdeckte ich zu meiner Überraschung keine der Heilerinnen. Ich trat ein und liess meinen Augen einen Moment, um sich an das Dunkel zu gewöhnen, dann schob ich die Tücher vor dem Durchgang zur Seite, aus dem der flackernde Lichtschein einer Kerze drang. Auf einem schmalen Bett an der Wand lag der Druide. Er schien ruhig zu schlafen. Vorsichtig und leise, damit ich ihn ja nicht weckte, durchquerte ich den engen Raum, in dem nicht viel mehr als das Bett, ein Schemel und ein kleiner Tisch Platz fanden. Ich setzte mich. Gael hatte nicht ganz unrecht, der Druide sah wirklich gut aus. Ich schmunzelte.

Plötzlich öffnete er die Augen und begegnete meinem Blick aufmerksam und musternd.

»Du hast ja gar nicht geschlafen«, entfuhr es mir. Im selben Moment hoffte ich inbrünstig, dass er meine Gedanken nicht lesen konnte.

Er lachte leise. »Nein, habe ich nicht.« Mit einem Ächzen setzte er sich auf und betrachtete mich eingehend. »Dir verdanke ich also mein Leben.«

Ich war etwas überrascht. »Sie haben es dir erzählt?«

Mit einem leichten Schmunzeln schüttelte er den Kopf. »Ich kann mich an deinen Duft erinnern. Und an deine Stimme!«

»Ich habe dich nur hierhergebracht, mehr nicht«, antwortete ich ehrlicherweise und räusperte mich. »Wie geht es dir?«

»Besser.« Er seufzte. »Eure Heilerinnen haben ganze Arbeit geleistet. Nach einer wahrlich beeindruckenden Tränkekur und etlichen Tinkturen scheinen sie wieder Hoffnung zu schöpfen, dass ich überleben werde.« Freundlich lächelte er.

Ich konnte nur erahnen, wie er Frauen anstrahlen und um den Verstand bringen konnte, wenn er völlig gesund und bei guter Laune war. Vielleicht war das mit den Sklavinnen doch nicht so weit hergeholt? Er senkte den Blick und starrte auf seinen Schoss. Seine Miene verdüsterte sich.

Auf der rauen, roten Wolldecke lagen seine Hände und die kaum verheilten Wunden zogen einmal mehr meine Aufmerksamkeit auf sich. Mich juckte es in den Fingern, ihn danach zu fragen, wer ihm das aus welchem Grund angetan hatte. Ein voll ausgebildeter Druide, der vor seiner Göttin und dem Stamm hoch angesehen sein musste – ein teures, verzweifeltes Opfer.

Ich spürte, dass er an diesen Moment zurückdachte, als ihn seine Kräfte verlassen hatten, wie sein Blut aus den Wunden auf den Altarstein tropfte und von Mutter Erde aufgesogen wurde. Fast konnte ich den Ablauf vor mir sehen.

»Es freut mich, dass es dir wieder besser geht«, riss ich ihn aus seinen Gedanken und erntete einen ebenso überraschten wie kritischen Blick.

Kritische Blicke war ich gewohnt, also ignorierte ich diesen, genau wie alle anderen. »Hast du Hunger? Ich kann dir etwas Wildschweinbraten holen«, bot ich an und stand dabei auf.

Er schüttelte kaum merklich den Kopf. »Danke, ich habe keinen Hunger.« Wieder sah er mich aus unergründlichen, dunklen Augen an. »Hast du keine Angst?«

Ich zog meine Augenbrauen hoch. »Weshalb sollte ich?« Plötzlich schien er etwas verunsichert. »Ich kann mich selbst verteidigen«, vertraute ich ihm lächelnd an, verschwieg aber, dass ich zwei Dolche, ein Stilett und ein Schwert bei mir trug. Meinen Langbogen nahm ich nur mit, wenn Waffen erlaubt waren. Es musste niemand wissen, dass ich ständig bewaffnet war. Würden es meine Lehrerinnen oder gar meine Mitschülerinnen erfahren, dann wäre die Hölle los. Sogar meine Grossmutter würde da wohl nichts mehr ausrichten können und ich müsste mich vor dem Rat der Ältesten rechtfertigen.

»Das ist gut.« Er lächelte nun ebenfalls schwach.

Ich wurde den Eindruck nicht los, dass ihn etwas bedrückte, dass er Tausende von Fragen hatte und diese nicht stellte. Vor allem sah er sehr müde und schwach aus. Jede seiner Bewegungen führte er nur langsam und sehr bedacht aus, sogar seine Schulter lehnte er an die Holzwand hinter sich, was er aber zu verbergen versuchte. Mir fiel es trotzdem auf. »Du solltest etwas schlafen und zur Ruhe kommen«, riet ich ihm sanft. »Du brauchst es, um zu genesen.«

Ich reichte ihm einen Becher Wasser und strich kurz über meine Kutte, während er einen kleinen Schluck trank. Erschöpft liess er sich auf das Bett fallen. Jetzt, wo sein Gesicht nicht mehr im Schatten der Kerze lag, erkannte ich die Schweissperlen auf seiner Stirn. Er musste unglaublich erschöpft sein.

In der Dunkelheit

 

Ich trat an die frische Luft, meine wirren Gedanken brauchten Abkühlung. Inzwischen war es fast dunkel und das Abendessen war weggeräumt. Ich hatte neben dem Bett gewartet, bis der Druide eingeschlafen war. Selbst dann harrte ich noch einige Zeit bei ihm aus.

Auf der Schwelle vor der Tür blieb ich kurz stehen und lehnte mich an den Rahmen. Die Hütte der Heilerinnen lag etwas versteckt hinter anderen Wohnhütten, und nur entlang des Weges sah ich auf den zentralen Platz unseres Lagers. Die meisten Frauen waren schon zu Hause, nur eine Handvoll sass um das Feuer in der Mitte und nutzte den ruhigen Augenblick, um über den Gehörnten und die Welt zu plaudern. Gelegentlich gesellte ich mich zu ihnen, um ihren Gesprächen zu lauschen, aber heute war mir nicht danach.

Der Platz mass gut zwei Dutzend Schritt im Durchmesser, war durch die ständige Nutzung braun und bei Regenfällen schlammig. Rundherum standen knapp ein Dutzend kleine Holzhütten, die jeweils Platz für zwei bis drei Druidinnen, in selteneren Fällen auch für Priesterinnen, boten. Erst in der zweiten Reihe kamen die Behausungen für die Lehrlinge, die Familien und die meisten Priesterinnen. Gegen das Lager der Männer, welches leicht erhöht stand und von unserem mit einem Palisadenzaun getrennt war, befanden sich auch noch der Speicher sowie die Hütten der Ältesten. Drei Frauen und drei Männer mit grosser Weisheit und beachtlicher Lebenserfahrung bildeten den Rat der Ältesten. Sie entschieden über die Zukunft des Clans. Im Gegensatz zu den restlichen Gebäuden waren ihre Hütten sechseckig und wesentlich geräumiger. Sie boten auch Platz für die Versammlungen des Rates und wichtige Gespräche, die nicht mitgehört werden sollten.

Die Häuschen waren nicht direkt auf den Boden gebaut, sondern standen auf mächtigen Steinquadern, die das Holz vor Nässe und die Vorräte vor Mäusen schützten. Selbst bei heftigen Regenfällen blieben wir im Inneren der Hütten trocken.

Nachdenklich liess ich meinen Blick nach links zum Ausgang unseres Dorfes schweifen. Was war das? Wenn ich genau hinsah, konnte ich am Berghang einige Fackeln brennen sehen. Es mussten Reiter sein, denn die Lichter wanderten in einem Höllentempo den Pass hinunter. So schnell konnte niemand rennen. Zwischendurch verschwanden sie hinter den Bäumen, aber das Leuchten konnte ich dennoch gut mit den Augen verfolgen. Einen Moment lang war ich alarmiert, entspannte mich aber gleich wieder. Wollte uns jemand angreifen, würde er sich nicht den Schutz der Dunkelheit mit ein paar Fackeln zunichtemachen.

Trotzdem machte ich mich auf den Weg zur Dorfältesten, um ihr von meiner Beobachtung zu berichten. Sie schickte Rave, ihre rechte Hand, zum Lager der Männer und informierte einige der Druidinnen. Sie wollten sich beim Eingang treffen. Besuch um diese Tageszeit war selten, deshalb ergriff sie wohl die Vorsichtsmassnahmen.

In der allgemeinen Aufregung, die nun ausbrach, konnte ich mich unbemerkt nach draussen zu Eronja schleichen. Die dunkelbraune Stute begrüsste mich mit einem leisen Schnauben und rieb den Kopf an meiner Schulter. Mir war nicht ganz wohl bei der Sache mit den Reitern. Ich holte meinen Langbogen und den mit Pfeilen gefüllten Köcher aus dem Versteck neben der Koppel. Da wir nur wenige Pferde besassen und noch weniger Leute sich um sie kümmerten, hatte ich mir nie Sorgen gemacht, dass er zufälligerweise entdeckt werden könnte.

Auf leisen Sohlen schlich ich mich zum mächtigen Nussbaum hinter dem Eingang zu unserem Lager. Ich kletterte hinauf. Hinter dichtem Laub versteckt konnte ich alles mitverfolgen, ohne selbst entdeckt zu werden. Inzwischen trafen vier weitere Ratsmitglieder beim Eingangstor ein und stellten sich am Dorfeingang auf. Alle drei Frauen und zwei der Männer waren anwesend.

Etwas überrascht war ich, als ich auch Gael entdeckte. Er war erst diesen Sommer zum Priester geweiht worden und hatte hier eigentlich nichts verloren. Doch sein Mentor Thamrath nahm ihn seit Kurzem überallhin mit, damit er von ihm lernte und bald bereit war, um zu seinen Druidenlehrjahren aufzubrechen. Also folgte Gael ihm auch jetzt. Als er unter dem Nussbaum stand, hielt er kurz inne und blickte unauffällig zu mir hoch. Ich wusste, dass er meine Aura sehen konnte und lächelte, während mein Blick wieder über die Ebene schweifte. Dort liessen wir unsere Tiere weiden. Schafe und Ziegen versorgten uns mit Milch, Wolle und auch Fleisch, wenn die Jagd eine Zeit lang nicht erfolgreich genug war.

Die Reiter kamen rasant näher. Inzwischen konnte ich vier Fackeln erkennen. Als sie an einer Gruppe Schafe vorbeipreschten, blökten diese mürrisch und sprangen widerwillig auf. Die Unruhe am Dorfeingang wurde immer spürbarer. Unbewusst spannte ich mich ebenfalls an. Gael stand leicht bewaffnet etwas versteckt neben dem Eingang. In seiner Nähe entdeckte ich noch weitere junge Priester.

Irgendetwas war da im Busch. Wegen einiger weniger Reiter würde nie und nimmer so ein Aufwand betrieben werden. Jetzt machte mich die ganze Angelegenheit noch neugieriger.

Ein paar Hundert Schritt von uns entfernt hörte ich plötzlich ein unheilvolles Poltern, als ein Pferd strauchelte und eine der Fackeln ausging. Offensichtlich hatten sie die armen Tiere so sehr angetrieben, dass eines zusammengebrochen war. Ob der Reiter verletzt oder überhaupt noch am Leben war, konnte ich in der Dunkelheit und im nun ausbrechenden Chaos nicht erkennen. Die verbliebenen Reiter preschten weiter ungebremst auf unser Lager zu. Gerade noch rechtzeitig sprangen die Druiden und Priester unseres Clans zur Seite, ehe sie in unser Lager galoppierten und panisch riefen: »Schliesst das Tor! Schliesst das verdammte Tor!«

Auf dem zentralen Platz kamen sie endlich zum Stehen. Die Flanken der Pferde glänzten vor Schweiss, ihre Beine zitterten und sie schienen erleichtert, dass ihnen nun eine Pause gegönnt wurde. Eilig brachte eine meiner Mitschülerinnen zwei Eimer mit Wasser und stellte sie vor die Tiere. Ich dankte ihr innerlich dafür, denn ich mochte es nicht, wenn diese unschuldigen Geschöpfe derart gequält wurden.

Einer der vier Reiter trug keine Fackel bei sich, deshalb hatte ich ihn bisher nicht gesehen. Hastig schritt meine Grossmutter auf die Neuankömmlinge zu. Einerseits wollte sie Ruhe und Würde ausstrahlen, andererseits hatte sie die Ankunft der Fremden doch in Aufregung versetzt, was insgesamt fast schon wieder lustig aussah. Auf dem Weg zu den Reitern gab sie den Umstehenden ein Zeichen, das Tor zu schliessen. Gael und zwei Priester gehorchten auf der Stelle. Das schwere Tor liess sich kaum bewegen, die Scharniere waren ziemlich angerostet nach der langen Zeit, in der es nicht geschlossen worden war. Ich jedenfalls konnte mich nicht daran erinnern. Von meinem Hochsitz aus sah ich, dass auch das massive Tor im Lager der Männer geschlossen wurde – mit nicht weniger Anstrengung als hier.

»Seid gegrüsst«, eröffnete meine Grossmutter das Gespräch. In ihrer Stimme hörte ich Ärger. Mitten in der Nacht praktisch überfallen zu werden, weil Fremde ohne Rücksicht auf Verluste ins Dorf preschten … Die Reiter mussten damit rechnen, dass wir sie mit Skepsis und nicht mit offenen Armen empfingen.

Vom Baum aus konnte ich kaum etwas hören, deshalb liess ich mich lautlos auf ein Hüttendach unter dem Baum fallen und sprang einige Dächer weiter. Hier waren sie so dicht aneinander gebaut, dass ich mühelos die Strecke bis zum grossen Baum nahe dem zentralen Platz zurücklegen konnte, ohne entdeckt zu werden. Bevor ich zum letzten Sprung auf den Lindenbaum ansetzte, erhaschte ich im Augenwinkel eine Bewegung bei der Hütte der Heilerinnen. Der Erdendruide war aufgestanden! Er schwankte gefährlich, beinahe konnte ich in der Dunkelheit das Zittern seiner Beine sehen. Kurz entschlossen sprang ich vom Hüttendach auf den weichen Weg.

In diesem Moment tauchte Gael aus dem Schatten einer Hütte auf. Hinter seinem Rücken brannte das Feuer des Platzes, ich erkannte ihn nur an seiner Silhouette. »Versteck ihn, sie sind hinter ihm her.« Ich spürte seinen eindringlichen Blick, als er in Richtung des Druiden nickte. Er machte kehrt und wandte sich wieder dem Platz zu.

Ohne an Gaels Aussage zu zweifeln – er konnte die Auren aller Menschen sehen und ich vertraute ihm so weit, dass er eine Situation einzuschätzen wusste –, trat ich zum fremden Druiden und legte den Arm so um ihn, dass er sich gut auf meiner Schulter abstützen konnte. Wir verbargen uns in den Schatten, huschten von Hüttenwand zu Hüttenwand. Noch suchte niemand nach ihm, und wir beeilten uns, möglichst rasch vorwärtszukommen. Der Druide versuchte, mit mir Schritt zu halten, so gut es ging, aber seine Beine versagten ihm hin und wieder den Dienst, sodass wir nur schleppend vorankamen.

Meine Gedanken rasten. Wenn die Reiter tatsächlich hinter dem Druiden her waren und den Rat davon überzeugen konnten, dass er ihnen übergeben wurde, dann würden sie das ganze Lager auf den Kopf stellen. Wir hatten keine Chance zu entkommen, besonders jetzt, wo die Tore geschlossen waren.

Wir gingen den Palisadenzaun entlang und achteten darauf, nicht gesehen zu werden. Der einzige Ausweg, der mir auf die Schnelle einfiel, war, auf den Nussbaum zu klettern. Von einem der starken Äste konnten wir auf die andere Seite des Zauns gelangen, das hatte ich bereits mehrmals ausgenutzt. Es bestand kaum Hoffnung, dass wir es überhaupt ungesehen dorthin schafften, aber eine bessere Idee hatte ich nicht. Es gab kein sicheres Versteck im Lager, also mussten wir es verlassen.

Plötzlich stellte sich uns Thamrath in den Weg. »Scheisse!«, entfuhr es mir, und beinahe hätte ich instinktiv kehrtgemacht, doch die Chance auf eine erfolgreiche Flucht war verschwindend gering. Mit dem verletzten und geschwächten Druiden, der sich schwer auf meine Schulter stützte, wäre ich nicht weit gekommen. Jetzt würde er wohl ausgeliefert werden.

»Du bist Sono?«, fragte er mich mit seiner tiefen, ruhigen Stimme.

Er war eine imposante Erscheinung, bestimmt zwei Köpfe grösser als ich und doppelt so breit. Mit seinen Händen hätte er wohl locker den Kopf eines Stieres zertrümmern können, und die zahlreichen Malereien am ganzen Körper liessen ihn nur noch grösser erscheinen. Die schwarzen dichten Haare hatte er zu einem kurzen Schwanz am Hinterkopf zusammengebunden. Ich nickte schwer schluckend.

Er drehte sich um und winkte mich zu sich. »Komm mit.«

Er gab sich keine Mühe, nicht gesehen zu werden. Immerhin war er ein angesehener Druide und hatte sehr viel mitzubestimmen. Wenn ihn jemand sah, dann wusste man einfach, dass es nichts Verbotenes war, was er da tat. Abgesehen davon hatten sich praktisch alle beim zentralen Platz eingefunden und es schien unwahrscheinlich, dass uns jemand sah.

Direkt neben dem Nussbaum beim Eingangstor hielt der Druide an und drehte sich zu uns um. Neben dem Baum verbarg sich ein kleiner Schrein unter den schweren Ästen. An warmen Sommertagen lud er im lichten Schatten des Baumes zu Gebet, Meditation und zum Verweilen ein. Wirklich oft genutzt hatte ich ihn nicht, auch die anderen Dorfbewohner, seien es nun Druiden, Priester oder Lehrlinge, zogen andere, ruhigere Orte vor.

Thamrath betätigte an einem Stein des hellen, schon leicht verwitterten Altars einen Hebel und es rumpelte. Langsam wurden die gedämpften Gespräche vom zentralen Platz lauter und aufgeregter. Hatte sich der Ältestenrat überzeugen lassen, jemanden auf die Suche nach dem Erdendruiden zu schicken? Meine Vermutung schien bestätigt, als sich die murmelnde Menschenmenge im Lichtschein ihrer Fackeln zur Hütte der Heilerinnen aufmachte.

Der Hüne von einem Druiden trat auf den Baum zu, wischte unwirsch Laub zur Seite, ehe er mit blossen Händen einen grossen Block und ein paar Steine zur Seite wuchtete. Dann trat er zurück und murmelte: »Los, wir müssen uns beeilen.« Er nahm meine Hand und zog mich und den Erdendruiden etwas näher zum Eingang.

Verwirrt sah ich ihn einen Moment an. Wollte er den Druiden nicht an die Reiter ausliefern? Oder hatte Gael Thamrath ebenfalls ins Vertrauen gezogen? Eiligst legte ich meinen Langbogen zur Seite und setze mich an den Rand des schwarzen Schlundes. Meine Beine baumelten in der undurchdringlichen Dunkelheit. Ich konnte nicht einmal erahnen, in welcher Tiefe der Boden lag. Tapfer packte ich die gut armdicke Wurzel vor meinem Gesicht, überwand mein mulmiges Gefühl und schwang mich in den Tunnel.

Als ich den Boden unter meinen Füssen spürte und an einer Tunnelwand Halt fand, atmete ich erleichtert auf. Die Luft war kühl, roch muffig und feucht. Irgendwo in der Ferne tropfte Wasser in eine Pfütze. Der Tunnel trug das Geräusch bis an meine Ohren.

Thamrath reichte mir meinen Langbogen und half dann dem Erdendruiden in den Tunnel hinunter. Bei ihm wirkte es, als ob der Fremdling kaum etwas wog.

»Ich habe ihn«, meinte ich, als der Erdendruide mehr oder weniger sicher neben mir stand.

»Danke«, murmelte dieser tonlos. Zu mehr reichte wohl seine Kraft nicht mehr. Ich warf ihm einen besorgten Blick zu.

Thamrath kniete sich vor den Eingang und übergab mir zwei Beutel, ehe er sich zu uns hinuntergleiten liess. Von unten war es ungleich schwieriger, den Stein wieder an seinen alten Platz zu befördern, doch irgendwie schaffte er es. Dann hörte ich, wie suchende Hände die Tunnelwand abtasteten. Als Thamrath den Hebel endlich gefunden hatte, stemmte er sich dagegen. Mit einem Rumpeln schob sich die Steinplatte wieder vor den Eingang. Erde und Kiesel rieselten herunter, Staub drang in unsere Lungen. Ich hustete, der Erdendruide brachte ein klägliches Krächzen zustande.

Thamrath nahm seine Beutel wieder an sich. Es raschelte und kurze Zeit später brachte er einen beinahe komplett durchsichtigen Stein zum Vorschein. Im Inneren verliefen einige wenige Wachstumsflächen, vielleicht auch der ein oder andere Hohlraum, doch an den Aussenflächen war der Stein spiegelglatt geschliffen. Ein helles, blau-weisses Glühen erfüllte den Stein und vermochte gerade so, die Stollenwände und den Weg zu beleuchten.

Ich wusste von Gael, wie selten solche Leuchtsteine waren und dass Thamrath einen besass. Aber dass ich ihn eines Tages mit eigenen Augen sehen würde, davon hatte ich nicht zu träumen gewagt.

»Kommt.«

Der Erdendruide drückte sich von der glatten Tunnelwand ab. Ich musterte ihn, unschlüssig, ob ich ihn stützen sollte oder nicht. Im fahlen Licht entgingen mir die Schweissperlen auf seiner Stirn fast. »Aber er ist erschöpft, wir sollten ihm einen Moment …«

»Wir haben keine Zeit«, unterbrach Thamrath mich. Er wandte sich ohne eine Erklärung von mir ab und marschierte los.

Offenbar hielt Gaels Mentor nicht viel vom Erdenclan, was mich angesichts der Feindschaft zwischen den Clans nicht wirklich überraschte. Trotzdem fühlte ich mich vor den Kopf gestossen. Immerhin verhalf er dem Erdendruiden gerade zur Flucht. Weshalb riskierte er nun dessen Leben, indem er ihn rücksichtslos weitertrieb?

Aufgeregte Rufe drangen an meine Ohren. Wenn uns jemand hier entdeckte, dann hätten wir wohl Schwierigkeiten, uns zu erklären. Oder warum genau sollten eine angehende Priesterin und ein Druide des Wasserclans mit einem Erdendruiden fliehen, um ihm so das Leben zu retten?

Das erklärte wohl auch Thamraths widersprüchliches Verhalten. Der Wasserdruide duckte sich unter der tiefen Decke, während der Erdendruide und ich aufrecht gehen konnten.

Es ging leicht bergab, was mich insgeheim etwas erleichterte. Hier und da ragte eine Wurzel von der Decke in den Weg, einmal war sogar eine der Steinplatten heruntergebrochen und lag auf einem Trümmerhaufen mitten im Stollen. So schnell wie möglich kletterten wir darüber hinweg und setzten unseren Weg fort.

Plötzlich schwankte der Erdendruide vor mir gefährlich. Gerade noch schaffte ich es, ihn am Arm zu packen und so zu verhindern, dass er in sich zusammensackte. Er atmete schwer.

»Er braucht eine Pause«, wiederholte ich und hoffte, dass Thamrath sich jetzt erbarmen würde. Immerhin hatten wir schon eine beachtliche Strecke zurückgelegt – vorausgesetzt, ich konnte meiner Einschätzung in absoluter Dunkelheit trauen.

Gaels Mentor knurrte. Ich wusste gar nicht, was mein Freund an ihm so toll fand. Immer schwärmte er von seiner Ruhe und Weitsicht – aber die endete wohl, wenn es um einen Druiden eines anderen Clans ging.

»Thamrath, bitte.«

Wie zur Unterstreichung stöhnte der Erdendruide, im selben Moment gaben seine Beine nach. Fast hätte er uns beide zu Boden gerissen, wenn ich nicht rechtzeitig mein Gewicht auf die andere Seite verlagert hätte.

»Wenn er überleben soll, dann müssen wir rasten«, drängte ich weiter.

Thamrath seufzte und warf den grösseren seiner Beutel zu Boden. »Aber nur kurz.«

Ich nickte und liess den Erdendruiden sanft zu Boden gleiten. Während ich ihm Getreidefladen und Trockenfrüchte in Stücken gab, beobachtete ich Thamrath.

Bisher hatte ich kaum mit ihm zu tun gehabt. Ich kannte ihn nur aus Gaels Erzählungen und den wenigen Festen, die wir im Jahreszyklus feierten. Seit etwas mehr als einem Jahr war er ein Mitglied des Rats der Ältesten und galt als jemand, der für die Grundwerte unseres Stammes eintrat. Ich hatte nur Gutes von ihm gehört, insbesondere in Gaels Gunst stand er hoch. Und Gaels Urteil vertraute ich.

»Warum flüchten wir?«, fragte ich den Wasserdruiden, der mit gefurchter Stirn ein Stück Trockenfleisch vertilgte.

Er warf mir einen langen Blick zu. »Gael.«

Als ob das alles erklären würde. Ich verdrehte die Augen und hoffte, dass er es nicht gesehen hatte. Ein anderer Teil von mir wartete nur darauf, dass er sich darüber aufregen und mich zur Rede stellen würde. Wobei ich mir nach Gaels Erzählungen nicht sicher war, ob das ein erstrebenswertes Ziel war.

»Die Reiter sind hinter ihm her.« Thamrath nickte mit dem Kopf in Richtung des Erdendruiden. »Gael konnte nicht sagen, was genau sie suchen, aber er meinte, sie dürfen ihn auf keinen Fall finden.« Sein Blick ruhte lange auf mir, gerade so, als ob er herauszufinden versuchte, was an mir so Besonderes war.

Wenigstens das hatte Gael mir verraten, dachte ich mit einem Lachen im Herzen, aber ich war darauf bedacht, es nicht nach aussen hin zu zeigen.

»Aber er ist doch dein Schüler?«

Während er ein Stück Getreidefladen abbrach, nickte er. »Seine Fähigkeiten machen es ihm leicht, Absichten zu erkennen.«

Wenn das kein Vertrauensbeweis war, dann wusste ich auch nicht weiter. Für das, was Thamrath hinter dem Rücken des Rats tat, konnte er von diesem oder gar vom Stamm ausgeschlossen werden – und das nur, weil Gael ihn um Hilfe gebeten hatte. Ein wenig staunte ich schon. Aber genau genommen sassen Thamrath und ich im selben Boot. Auch mir drohte die Verbannung, sollte der Clan herausfinden, dass ich ihren Gast – oder ihren Gefangenen – entführt hatte.

 

Als wir uns wieder auf den Weg machten, legte ich den Arm des Erdendruiden wortlos über meine Schultern. Schon bald hatte ich jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren. Es kam mir wie eine endlose Reise durch die Dunkelheit vor. Irgendwann wurden die Steinplatten an der Wand von einem Gerüst aus Holzbalken mit Zwischenstreben abgelöst. Hier stieg der Weg leicht an.

Wir mussten einige Schritt unter der Oberfläche sein, denn ich konnte keine Wurzeln mehr erkennen. Der Untergrund bestand aus einem Gemisch von groben Kalkblöcken in einer lehmigen Masse. Sehr stabil sah es nicht aus, doch den Tunnel gab es wohl schon einige Zeit und er hatte bisher standgehalten. Ich vertraute darauf, dass der Stollen nicht ausgerechnet jetzt zusammenbrechen würde.

Nachdem wir eine beachtliche Strecke bergauf zurückgelegt hatten, stoppte Thamrath abrupt. Der Erdendruide fiel regelrecht in sich zusammen und blieb als erschöpftes Häufchen Elend auf dem feuchten Tunnelboden sitzen. Ich beobachtete ihn besorgt.

Thamrath bemerkte meinen Blick. »Kümmere dich nicht um ihn. Er ist ein Druide, er wird es überleben.«

Ein wenig zweifelte ich daran, doch Thamraths Stimme liess keine Widerrede zu.

»Magst du etwas essen?«, bot ich an, woraufhin der Erdendruide dankbar nickte. Ich drehte mich zu Thamrath um, der mich mit einem vernichtenden Blick fixierte, mir aber einen Getreidefladen reichte.

»Wie heisst du eigentlich?« Zählte das schon zu sich kümmern? Thamrath antwortete auf meine stumme Frage, indem er mich mit einem giftspeienden Blick durchbohrte. Offenbar wollte er jede Interaktion mit dem Erdendruiden unterbinden.

Dieser warf mir einen kurzen Blick zu. »Ciarann.« Seine Stimme hörte sich heiser an.

Ich erhob mich und bat um den Wasserschlauch. Eigentlich verwunderte es mich nicht, dass er den Kopf schüttelte, aber es machte mich trotzdem wütend.

»Er stirbt sonst«, flüsterte ich und hoffte, dass Ciarann mich nicht hören konnte. »Glaubst du, Gael hätte dich gedrängt, dich gegen den Rat zu stellen, wenn Ciarann nicht in irgendeiner Form wichtig wäre?« In meinem Bauch rumorte es. Ich hoffte inständig, dass er sich von mir überzeugen liess.

Murrend drückte er mir den Wasserschlauch in die Hand. Ich kniete mich neben den beinahe bewusstlosen Ciarann und legte ihm die Öffnung an die Lippen. Ehe ich Wasser in seinen Mund fliessen liess, konzentrierte ich mich auf die feuchte Erde unter meinen Knien, spürte das Kribbeln in meinem gesamten Körper und wie es sich im Wasser bündelte. Nur ein ganz kleines bisschen Herzenswunsch.

Der Druide schluckte zunächst schwach, doch bald nahm sein Gesicht eine gesündere Farbe an und die Schweissperlen glänzten nicht mehr ganz so gross.

»Wie …?«

Rasch legte ich den Finger an den Mund. Thamrath durfte davon nichts erfahren.

Niemand durfte das. Eigentlich.

 

Der Weg stieg weiter an. Immer häufiger war die Decke teilweise eingestürzt und wir mussten uns durch enge Passagen oder über Dreckhaufen kämpfen. Seit unserer kurzen Rast hatten wir keine Pausen mehr gemacht, obwohl der Marsch dem Erdendruiden viel abverlangte.

Unverhofft fanden wir uns vor einer Wand wieder. Es sah ganz nach einer Kletterpartie aus. Thamrath fluchte, aber so leise, dass ich nicht verstand, was genau er sagte. Dabei hätte es mich brennend interessiert, wie ein Mitglied des Rats der Ältesten fluchte.

Er drehte sich zu uns um. »Wir sollten hier das Lager aufschlagen. Morgen sehen wir weiter.« Seine Augen verengten sich, als er Ciaranns Arm über meiner Schulter sah, und er drängte sich zwischen uns hindurch.

Im schwachen Licht des Steines konnte ich das Ende der beinahe senkrecht ansteigenden Höhle nicht erkennen. Mir war schleierhaft, wie wir da hochklettern sollten. Zwar ragten immer wieder grössere Vorsprünge aus dem Felsen, aber gerade die konnten zu unüberwindbaren Hindernissen werden.

Thamrath holte unsere Vorräte hervor und reichte mir eine ordentliche Portion, verzichtete aber darauf, Ciarann auch etwas zu geben. Auch mein fragender Blick änderte nichts daran.

»Denk erst gar nicht daran«, brummte Thamrath, ohne mich anzusehen, und ich hielt in meiner Bewegung inne. Woher hatte er gewusst, dass ich mein Essen mit Ciarann teilen wollte?

»Abgesehen davon wirst du jeden Kontakt mit ihm meiden. Du wirst ihn nicht ansehen, nicht berühren, nicht mit ihm sprechen. Und für dich«, wandte er sich an Ciarann, »gilt dasselbe. Mit dem Unterschied, dass du bei einem Vergehen deinen Kopf verlierst. Gael hat gesagt, ich solle euch beide wegbringen. Das habe ich getan. Doch wie ich mit dir umgehe …« Sein Blick traf Ciarann, der die Drohung stoisch über sich ergehen liess, als wäre das nichts Neues für ihn.

Thamrath weckte mich für die zweite Wache aus dem Tiefschlaf. Der Leuchtstein ragte ein wenig aus dem Beutel hervor und spendete gerade genug Licht, sodass ich die Umrisse der beiden Druiden erkennen konnte.

Schon bald durchdrang Thamraths leises Schnarchen als einziges Geräusch die Stille des Stollens. Irgendwann jedoch raschelte mein Mantel, den ich über Ciarann gelegt hatte. Der Erdendruide setzte sich mit einem leisen Stöhnen auf und lehnte sich an die feuchte Tunnelwand.

»Mein Clan«, begann er leise, hielt aber kurz inne. »Mein Clan meinte, er brauche mich nicht mehr.«

Sein Blick ruhte auf den Handgelenken und er war völlig in seine Gedanken versunken. Wie musste es sich anfühlen, vom eigenen Clan geopfert zu werden? Ich mochte es mir gar nicht vorstellen. Zwar mieden mich meine Mitschülerinnen, das Gerede der Priesterinnen sagte mir nicht zu, aber im Grossen und Ganzen war ich ein Teil des Clans, obwohl ich nicht mein ganzes Leben im Clan verbracht hatte.

Ich war schon immer anders gewesen. Seit jeher war ich lieber im Wald umhergestrichen, als mit den anderen Mädchen Kleider zu verzieren. Ich hatte es vorgezogen, mich um Eronja zu kümmern, statt Wild zuzubereiten – abgesehen davon, dass ich es am liebsten selbst erlegte. Ich war stolz, auf eigenen Beinen zu stehen. Stolz, dass ich nicht nur Heilpflanzen, sondern auch essbare Wurzeln, Blätter und Nüsse fand und wusste, wie ich sauberes Wasser beschaffen konnte. Trotz meiner ungewöhnlichen Vorlieben wurde ich akzeptiert.

»Ist dir eigentlich bewusst, dass du genau die richtige Kräutermischung verwendet hast?« Ciarann riss mich aus meinen Gedanken. Für einen Moment sah ich ihn verwirrt an. »Ich wurde … In meinem Körper befanden sich noch starke Gifte, die nur mithilfe der Kräuter neutralisiert werden konnten. Aber es mussten genau diese beiden sein.«

Ich griff nach dem Wasserschlauch und schüttelte den Kopf. »Ich wusste ja nicht, welches Gift dich schwächte. Es war mehr so ein Gefühl, dass es die richtigen Kräuter sind«, gab ich zu.

»Passiert dir das häufiger?«

Ich lachte leise. »Nein, Leben rette ich nur …« Als ich ihn ansah, verstummte mein Lachen augenblicklich. Seine braunen Augen strahlten mich an, zogen mich in ihren Bann und mir wurde heiss und kalt zugleich. Sie glühten und flackerten wie ein wildes Feuer, ganz dem Stein ähnlich, leuchteten sie von innen heraus. Mein Herz tanzte wild in meiner Brust.

»Du hast ein wundervolles Lachen«, flüsterte er, »und einen interessanten Namen. Sono, richtig?«

Einen Moment fragte ich mich, woher er ihn kannte. Doch dann fiel mir ein, dass Thamrath ihn genannt hatte, als er uns aufgegabelt hatte.

Über meinen Namen mochte ich jetzt aber ganz bestimmt nicht sprechen. »Wenn Thamrath uns hört …«, warnte ich mit einem Blick zum schlafenden Druiden. Ciarann schloss die Augen und nickte.

 

Als Ciarann wieder in einen unruhigen Schlaf gefallen war, liess ich meine verwirrten Gedanken schweifen.

Heute Morgen hatte ich noch nicht gedacht, dass dies der womöglich ereignisreichste Tag in meinem bisherigen Leben werden würde. Dann hatte ich einen Erdendruiden gefunden, diesen gerettet und später waren unbekannte Reiter in unser Lager gekommen. Mit ihnen waren die Tore in unserem Lager zum ersten Mal seit Jahren geschlossen worden. Thamrath führte uns einen uralten, geheimen Weg entlang. Wir wussten weder, wohin diese Reise uns führte, noch, wie wir die steile Felswand erklimmen sollten.

Ich warf einen Blick auf den Erdendruiden. Wie gerne würde ich Ciarann fragen, was er alles wusste, was mit seinen Wunden am Hals und den Handgelenken war. Ich wollte wissen, weshalb die Tore geschlossen worden waren, als ob ein wildes Tier in der Ebene draussen gelauert hätte. Wie ging es Gael? Was war wohl gerade im Dorf los?

Müde schloss ich die Augen. Nur für einen Augenblick.

 

»Sono?«, hörte ich Ciarann leise.

Ich schreckte aus meinem Dämmerschlaf auf. Unglaublich, wie gut ich Wache halten kann, ging es mir sarkastisch durch den Kopf. »Ja?«

Er räusperte sich. »Ich friere.«

Wortlos stand ich auf und lehnte meinen Langbogen an die Wand. Zwei beim Aufprall auf den Boden klimpernde Dolche und ein Schwert später fühlte ich mich nackt und ungeschützt. Mit jeder Waffe, die ich abgelegt hatte, war seine Verwunderung spürbar gestiegen. Insgeheim schmunzelte ich.

Bevor ich unter seinen Mantel kroch, steckte ich den Leuchtstein ganz in den Beutel zurück.

Ciarann meinte erheitert: »Wie war das mit der Verteidigung noch mal?«

»Ich hab’s dir doch gesagt.« Ich lachte leise in mich hinein.

»Was ist mit Thamrath?«

»Keine Sorge, ich bleibe wach.«

Ein guter Plan

 

Den Rest meiner Wache schaffte ich es, wach und aufmerksam zu bleiben. Als Thamrath sich regte, kroch ich gerade noch rechtzeitig unter meinem Mantel hervor und setzte mich an die Wand. Offensichtlich hatte ich Glück – der Wasserdruide brauchte einen Moment, um richtig wach zu werden.

Ciaranns Hitze brannte in mir noch nach. Er hatte gezittert und ich war mir sicher, dass er in einem Fiebertraum gefangen war. Anscheinend hatte das Wasser nicht allzu viel bewirkt. Doch wäre es stärker gewesen, hätte es Thamrath bemerkt, und das wollte ich unbedingt vermeiden.

Thamrath sah sich kurz um, dann fiel sein Blick auf meine Waffen, die im fahlen Licht des Leuchtsteins schimmerten. Eine tiefe Furche bildete sich zwischen seinen Augenbrauen, als er mich musterte.

Bedächtig hob er einen der Dolche auf und kauerte sich neben Ciarann. Die Klinge blitzte an dessen Hals kurz auf, mein Herz setzte für einen Schlag aus. »Noch ein einziges Mal und die Narbe an deinem Hals wird dein kleinstes Problem sein.« Damit stand er auf, reichte mir meine Waffe und packte unseren Proviant ein. »Wir müssen weiter.«

Nur langsam beruhigte sich mein wild galoppierendes Herz wieder. Waren die Erdendruiden wirklich so gefährlich? Ich räusperte mich trotzig und reckte das Kinn ein ganz kleines bisschen vor. »Er hat Fieber.«

Thamraths schneidender Blick liess mich jeden Gedanken an eine Widerrede vergessen. Schweigend las ich all meine Waffen vom Boden auf und verstaute sie unter meiner Kutte. Dann beobachtete ich Ciarann, wie er sich zunächst auf die Knie zwang, vier Atemzüge pausierte und dann aufstand. Er taumelte gefährlich und ging sogar zwei Schritte rückwärts, um nicht hinzufallen.

Alles in mir drängte mich, ihm zu helfen, doch ich zweifelte keinen Wimpernschlag daran, dass Thamrath seine Drohung wahr machen würde.

Plötzlich drangen hohe, unregelmässige Töne an meine Ohren. Was war das? Instinktiv wollte ich nach meinem Schwert greifen, doch Thamrath packte mich am Arm und hielt mich zurück. Je näher die Töne kamen, desto nervöser wurde ich.

Von einem Moment auf den anderen herrschte absolute Stille. Ich hörte nur noch meinen Atem – und meinen Herzschlag. Beinahe panisch wand ich mich unter Thamraths Griff, doch er verstärkte ihn nur.

Ich erhaschte in der Dunkelheit einen Blick auf zwei gelborange glühende Augen und erstarrte vor Schreck – sie hatten den Durchmesser meiner Unterarme und hingen direkt über uns in der Luft, genau in dem Tunnel, den wir emporklettern sollten. Endlich gelang es mir, mich von Thamrath zu lösen. In der Dunkelheit erwischte ich mein Schwert und drückte mich schwer atmend mit dem Rücken an die Wand, möglichst weit weg von diesem unheimlichen Leuchten. Meine Gedanken liefen auf Hochtouren.

Als das Augenpaar aus dem Tunnel über uns verschwand und direkt vor mir wieder auftauchte, holte ich zu einem blitzschnellen Stich aus. Noch in der Bewegung fiel es mir aus der Hand und schepperte hell auf dem Boden. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, hatte keine Kontrolle über meinen Körper und versank in diesem unglaublich intensiven Blick.

Wie kannst du es wagen?, donnerte es in meinen Gedanken.

Augenblicklich schien mein Kopf vor Schmerz zu explodieren, ich wimmerte, spürte, wie ich zusammensackte, doch wie eine unsichtbare Hand hielt mich der Blick aufrecht.

»Lass sie los«, hörte ich Ciaranns freundliche Stimme. Sie war der einzige Strohhalm, den ich in meiner Panik finden konnte. An diesem weichen Klang hielt ich mich fest. »Sie kennt dich nicht und konnte nicht mit dir rechnen.«

Es dauerte einen endlos scheinenden Moment, bis der Druck in meinem Kopf langsam, aber kontinuierlich nachliess. Ich entspannte mich zusehends. Die Augen musterten mich immer noch misstrauisch, doch immerhin gehorchte mir mein Körper wieder. Nach einem ohrenbetäubenden Fauchen in meine Richtung verschwanden die gelborangen Punkte und ich sah wieder nichts mehr.

»Thamrath?«, fragte ich zitternd, noch immer an die Wand gepresst.

»Es ist eine Falbkatze«, flüsterte er ehrfürchtig.

»Alles in Ordnung«, ergänzte Ciarann, an niemand Bestimmtes gewandt. »Sie ist meine Freundin.«

Ein unheimliches Grollen aus tiefster Kehle folgte als einziger Kommentar der Kreatur. Ich zuckte zusammen. So viel zum Thema, es sei alles in Ordnung. Wenigstens jetzt war ich mit dem Wesen einer Meinung. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte schwören können, dass sie durch meine Reaktion eine Art Befriedigung erfuhr.

»Sie sind äusserst selten.« Irgendwo hatte ich schon einmal etwas davon gehört. Ciaranns Stimme zeugte von der Ehrfurcht und der Demut gegenüber der Katze. »Ihre Art ist so alt wie die Götter selbst. Sie wandeln in den dunklen Höhlen der Berge und sind sehr stolz. Sie wissen, dass wir sie vergöttern – und sie fordern das auch ein.«

Jetzt schnurrte die Katze. Hätten ihre riesigen Augen nicht gerade eben über meinem Kopf geleuchtet, so hätte mich ihr Schnurren vielleicht sogar ganz beruhigt. Doch nun dachte ich daran, wie gross erst der Körper der Falbkatze sein musste, um zu diesem Augenpaar zu passen.

»Und sie können es nicht ausstehen, wenn eine Waffe auf sie gerichtet wird.« Aus seiner sanften Stimme konnte ich sein warmes Lächeln heraushören.

Bei seinen Worten zogen sich auch meine Mundwinkel leicht nach oben.

»Sie hat sogar ihre beiden Jungen mitgenommen.« Er lachte leise und schien der glücklichste Mensch auf der Welt zu sein.

Mit offenem Mund starrte ich in seine Richtung. Er war hin und weg, seine Gedanken kreisten weder um sein Fieber noch darum, dass ihn eine Gruppe Reiter suchte oder dass wir den Ausweg aus diesem Tunnel noch nicht kannten. Er war einfach glücklich, dass ihm die Falbkatze diese Ehre erwies.

Mir allerdings war nicht ganz wohl bei der Sache.

Im Tunnel über unseren Köpfen entdeckte ich noch zwei weitere, deutlich kleinere Augenpaare, die uns aufmerksam musterten. Sie also hatten die Geräusche gemacht, als sie miteinander gespielt hatten.

Thamrath öffnete den Beutel mit dem Leuchtstein. Bereits im ersten schwachen Schein des Lichts konnte ich die ehrfurchtgebietende Gestalt der Grosskatze bewundern: Ihr feines, helles Fell mit den etwas dunkleren Spitzen, die samtenen Pfoten, die ihren Weg lautlos und behände fanden, die Ohren mit den dichten Fellbüscheln. Sie drehten sich flink und aufmerksam, während ein dicht behaarter Schwanz gemächlich hin und her schwang. Im Gegensatz zu den Katzen, die ich bisher gesehen hatte, war das Fell dieses Tieres grösstenteils einheitlich weiss oder beige, im spärlichen Licht konnte ich das nicht sicher beurteilen. Nur am Schwanz, an den Spitzen der Ohren und in der rautenförmigen Umrandung der leuchtend bernsteinfarbenen Augen war das Fell deutlich dunkelbraun oder gar schwarz gefärbt.

»Sie ist göttlich«, hauchte ich ergriffen und schämte mich beinahe, dass ich dieses Geschöpf hatte angreifen wollen.

Gut so.

Ich blinzelte verwirrt. Konnte die Katze wirklich in meine Gedanken eindringen? Wenn, dann war sie jetzt verstummt und genoss gerade die Streicheleinheiten von Ciarann. Sie hatte sich neben ihn gelegt und rieb ihren Kopf an seinem Bauch. Stand sie auf allen vieren, so überragte sie sogar Thamrath.

Der Wasserdruide knurrte und band sich die Beutel um. Ohne die Katze eines weiteren Blickes zu würdigen, kletterte er die ersten Stufen hinauf.

Ciarann schwang sich auf den Rücken der Katze und duckte sich unter der tiefen Decke, bis das seltene Tier einen riesigen Satz machte und weit über meinem und Thamraths Kopf auf einem Felsvorsprung landete.

Ich seufzte, als ich mit der rechten Hand Halt suchte und den Fuss auf einen kleinen Felsvorsprung setzte. Das konnte ja heiter werden.

 

Trotz einiger kniffliger Stellen waren wir verhältnismässig flott unterwegs. Die Falbkatze und ihre beiden meist miteinander spielenden Jungen sprangen kurze Abschnitte voraus, während Thamrath ihnen behände folgte. Ihm hatte ich solche Kletterkünste nicht zugetraut, doch flink wie ein Steinbock erklomm er die fast senkrechte Felswand.

Die Einzige, die sich wie ein Sack voll verfaulter Äpfel von Kerbe zu Kerbe hangelte, war ich. Wegen der andauernden Dunkelheit konnte ich nicht einschätzen, wie lange wir schon unterwegs waren. Ich wollte schon um eine Pause bitten, als das mystische Tier mit einem Satz an die gegenüberliegende Wand sprang, sich sofort wieder abstiess und sicher auf dem Vorsprung über mir landete. Ihre beiden Jungen folgten ihr freudig und spielten weiter miteinander. Ich lauschte den fröhlichen Lauten. Unglaublich, dass sie mir vor Kurzem noch Angst eingejagt hatten. Die Mutter war mir immer noch nicht geheuer.

»Wir sind da«, hörte ich Ciarann von oben.

Thamrath nahm die leicht überhängende Wand in Angriff, als wäre es nicht gefährlicher als ein Spaziergang zum Heiligen Bach.

Eiligst machte ich mich daran, ihm zu folgen. Mit der linken Hand griff ich nach einem kleinen Vorsprung. Plötzlich brach der Stein unter meinen Füssen in Stücken weg. Die Trümmer fielen in die Tiefe, weit unter mir hörte ich sie aufschlagen. Ein Schauer jagte mir über den Rücken. Hätte ich mich nicht mit der rechten Hand festhalten können, wäre ich in genau diesen Abgrund gestürzt. Ich schluckte und versuchte, festen Halt zu finden und mich hochzuziehen, doch ich schaffte es nicht, den Fels zu berühren.

»Sono?« Thamrath streckte seinen Kopf über den Rand und hielt den Leuchtstein so weit wie möglich über den Abgrund.

Mit einem unterdrückten Stöhnen zog ich mich abermals hoch. Endlich, meine Finger klammerten sich um einen Kalkknubbel.

»Sono!«, rief Ciarann besorgt.

Ich riss mich zusammen und prägte mir die Griffe ein. Sie lagen deutlich vor mir. Mit etwas Glück klappte es. Es musste einfach.

Das kleine bisschen Hoffnung gab mir Kraft – ich kämpfte mich zum nächsten Halt und nutzte den Schwung, um nach einem weiteren Vorsprung zu greifen. Ehe ich mich versah, lag ich total verschwitzt, schwer keuchend und mit etlichen Schrammen und blauen Flecken verziert neben einem beinahe göttlichen Wesen. Ich zitterte am ganzen Körper. Die Katze sah mich herablassend an und begann anmutig, ihre Pfote zu lecken.

»Das gefällt dir wohl«, murmelte ich in Richtung der Katze. Sie bedachte mich mit einem Blick aus ihren Bernsteinaugen – ob dieser nun warnend oder gleichgültig war, konnte ich nicht einmal erahnen. Als ich mich aufstemmte, brachen die Beine unter meinem Gewicht weg. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr und bebte unkontrolliert. Thamrath fasste meine Hand und zog mich auf die Füsse.

Vor uns öffnete sich eine hohe, schmale Spalte im Kalkgestein. Noch war nicht viel zu erkennen, aber in der Ferne sah ich einen leichten Schimmer. Tageslicht, endlich!

Die Katzen traten zusammen mit Ciarann durch den Spalt. Ich nahm mich und meine Schlotterbeine zusammen und folgte ihnen, während Thamrath in meiner Nähe blieb.

Unvermittelt weitete sich der Spalt zu einer geräumigen Höhle, deren Wände mit einer Art Raureif überzogen waren. Im schwachen Licht glitzerten sie geheimnisvoll. Neugierig berührte ich die funkelnde Schicht und stellte erstaunt fest, dass diese hart war. Obwohl es in der Höhle nicht sonderlich kalt war, hatte ich irgendwie damit gerechnet, dass die Wände tatsächlich von einer dünnen Eisschicht überzogen waren. War das ein Mineral, das sich so gleichmässig in der Höhle abgelagert hatte?

Wir erreichten eine Art Raum, aus dem das schimmernde Licht drang. Die Falbkatze blieb stehen, Ciarann liess sich von ihrem Rücken gleiten. Auf genauso leisen Pfoten, wie sie gekommen war, kehrte sie mit ihren Jungen nun in die dunklen Gänge des Berges zurück.

Ich hielt überrascht inne. Der Raum war mehrere Mannslängen hoch, und nur mit Mühe erkannte ich oben die Decke, die mit der Dunkelheit verschmolz. Das glitzernde Mineral tauchte die Höhle in ein verträumtes, kaltes Licht.

Knapp ein Dutzend Schritt von uns entfernt trennte ein kleiner, kristallklarer See den Raum. Tief und dunkel schmiegte er sich an eine Wand. Von ihm führte ein Bach weg, der den glattgeschliffenen Boden durchquerte und sich am Rand der Höhle über die Kante in einen Wasserfall stürzte. Von dieser Öffnung her drang auch das lang ersehnte Tageslicht herein.

Unter der Wasseroberfläche musste eine Quelle entspringen, die den See mit Wasser speiste. Trotzdem spiegelten sich die Figuren, die rund um den See standen und in ihn hineinblickten, im regungslosen Wasser. Die sieben Statuen waren primitive, wenn auch schön geschliffene Abbildungen, und trotz der einfachen Bildhauerkunst war deutlich zu erkennen, dass sie Katzen darstellten. Mir kamen sie vor wie Wächter. Auch sie waren von den winzigen Kristallen überzogen und glitzerten, als ob sich Leben in ihnen verbarg. Drei weitere Gänge gingen vom Raum weg und versprachen Dunkelheit, doch davon hatte ich vorerst genug.

Ich näherte mich langsam dem See und liess mich am Ufer auf die Knie nieder. Lange zögerte ich nicht, bis ich einen Schluck daraus trank. Herrlich! Frisches, kühles, klares Wasser.

Ciarann starrte mich entsetzt an. »Dir ist schon bewusst, dass wir hier an einem heiligen Ort stehen, oder? Und dass der See das Zentrum davon ist?«

Zum ersten Mal seit ich ihn kannte, hörte er sich ein wenig aufgebracht an. Selbst Thamrath schien nur am Rande zu bemerken, dass es der Erdendruide tatsächlich gewagt hatte, mit mir zu sprechen. Mit grossen Schritten kam er auf mich zu, packte mich an der Schulter und riss mich vom See weg. »Du hast hier nichts zu suchen«, zischte er.

Ein bisschen verstand ich ja schon, dass die beiden Druiden wütend waren. Immerhin glaubte ich zu wissen, wie mein Clan reagiert hätte, wenn irgendjemand erfahren hätte, dass Ciaranns Fuss in unserem Heiligen Bach gebadet hatte.

Trotzdem, da floss Wasser, das wir dringend brauchten. »Meint ihr wirklich, die Gottheit möchte, dass wir neben ihrem Heiligen Wasser verdursten?« Ich verschwieg, dass ich mich insgeheim schon auf ein erfrischendes Bad gefreut hatte.

»Noch haben wir Wasser«, meinte Thamrath und hob den viel zu leichten Wasserschlauch in die Höhe.

Innerlich seufzte ich, stand aber auf. Vielleicht gab es später die Gelegenheit, an das saubere Quellwasser zu kommen. Nicht, dass mich der schale Geschmack des Wassers aus dem Schlauch so sehr gestört hätte, dass ich nicht davon trinken würde, aber für uns drei reichte es einfach nicht mehr lange. Dabei hatte ich mich bisher noch zurückgehalten.

»Wir schlagen hier unser Lager auf.« Thamrath legte seine Beutel ab, verstaute den Leuchtstein und kratzte sich den Dreitagebart. Ihm hätte ein Bad wohl auch gutgetan.

Schweigend folgte ich seinem Beispiel, legte meinen Mantel auf den Boden und liess mich darauf nieder. Beinahe hörte ich, wie meine Beine »Danke« schrien, als ich sie von mir streckte.

 

Als ich die Augen aufschlug, war ich erholt, obwohl sich ein Stein in meinen Rücken gebohrt hatte. Die Stelle pulsierte heftig, als ich mich von der Felswand löste. Noch ein wenig verschlafen sah ich mich um. Neben mir – natürlich in angemessenem Abstand – wälzte sich Ciarann unruhig hin und her und murmelte zusammenhanglose Sätze. Seine Haut war blass und glänzte. Langsam machte mir sein Zustand Sorgen. Eigentlich hätte es ihm schon längst besser gehen müssen.

Thamrath konnte ich nicht entdecken. Vermutlich kundschaftete er die anderen Gänge aus, denn irgendwie mussten wir ja von hier wegkommen.

Ich hörte, wie Ciaranns Mantel raschelte, als er aus seinem Fieberschlaf erwachte. Obwohl er versuchte, mich mit seinen glasigen Augen zu fixieren, sah er durch mich hindurch.

Kurz entschlossen ging ich zum See, schloss die Augen und holte tief Luft. Ich schöpfte Wasser daraus und hielt es vor mein Gesicht, als sich die Kraft dieses heiligen Ortes über meine Knie und durch meinen Körper einen Weg zu meinen Händen suchte. Ein Herzenswunsch.

Dann hielt ich Ciarann die Hände hin und meinte leise: »Trink.«

Offenbar begriff er trotz seines Zustandes, dass ich aus der Heiligen Quelle Wasser entnommen hatte. Er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, als ob ein Geist vor ihm knien würde. Er zögerte. Die ganze Zeit betrachtete er mich prüfend und hielt meinem Blick stand. Ich war so stark mit dem Boden verbunden, dass ich sein Zittern wahrnehmen konnte, sein hohes Fieber. Die Erschöpfung war offensichtlich.

»Trink«, wiederholte ich sanft und streckte ihm meine Hände entgegen. Der grösste Teil war bereits zwischen meinen Fingern durchgesickert, aber der Rest würde reichen.

Ergeben schloss er die Augen und trank aus meiner Hand. Beinahe konnte ich sehen, wie ihm das Wasser von innen Kraft gab. Er legte den Kopf zur Seite. »Was hast du mit dem Wasser angestellt?«

»Du musst dich jetzt ausruhen«, unterbrach ich ihn sanft und drückte ihn zurück auf den Boden. »Schlaf ein wenig.«

Ich fasste meinen Langbogen und kontrollierte den Sitz meiner Dolche, ehe ich an die Stelle trat, an der der Bach aus der Höhle trat und in einen Wasserfall überging. Ein heftiger Wind erfasste einen Teil meiner Kutte und heulte laut in meinen Ohren, als ich mich zu weit nach draussen lehnte. Mit klopfendem Herzen drückte ich mich an den Fels.

Es regnete so heftig, dass kühle Wassertropfen auf mein Gesicht prasselten. Vor mir öffnete sich ein schmales, stark bewaldetes Tal, welches von breiten Bergspitzen und hohen Flanken eingesäumt war. Im dichten Regen konnte ich nicht allzu viel erkennen, doch tief unter meinen Füssen sammelte sich das Quellwasser zu einem Bach. Er schlängelte sich durch den Wald und verschwamm irgendwann mit dem Grün der Bäume, sodass ich ihm nicht mehr folgen konnte.

Am gegenüberliegenden Ende des Tales klebte eine Stadt oder eine Festung am Stein. Sie schien komplett aus hellem Gestein zu bestehen. Wenn ich mich nicht täuschte, schützte eine massive Mauer die Festung und ein paar Häuser. Durch den starken Regen hindurch konnte ich nicht erkennen, ob jemand dort lebte, aber ich vermutete es stark. Die Natur eroberte verlassene Städte nur zu schnell zurück.

Ich setzte mich auf den Kalkstein. Die frische Luft tat mir nach dem langen Marsch in der abgestandenen, modrigen Stollenluft gut. Ausserdem half mir das Tageslicht, mich zeitlich wieder zurechtzufinden.

Obwohl wir dringendere Probleme zu lösen hatten, spukte die Frage nach Ciaranns Vergangenheit immer wieder durch meine Gedanken. Je länger ich ihn kannte, desto geheimnisvoller wirkte er. Was versteckte er vor uns? Wieso waren die Reiter hinter ihm her? Wie kam es, dass er mit einer Falbkatze befreundet war? Hin und wieder, wenn sich meine Gedanken um ihn drehten, wagte ich einen Blick nach hinten, obwohl ich genau wusste, dass er noch schlief.

Nun, dann konnte ich die Gelegenheit nutzen und mich waschen. Mir grauste es vor der Kälte, doch ohne lange darüber nachzudenken, zog ich mich aus. Meine Waffen legte ich fein säuberlich ans Ufer, sodass ich sie notfalls rasch greifen konnte.

Mit einem tiefen Atemzug stieg ich ins Wasser. Meine Güte, war das kalt! Trotzdem tauchte ich komplett ein und liess Luftblasen aus meinem Mund gegen die Wasseroberfläche tanzen.

Als ich wieder an die Oberfläche kam, japste ich, liess meinem Körper aber Zeit, sich an die Kälte zu gewöhnen. Der Teich mass nur wenige Mannslängen im Durchmesser, war aber erstaunlich tief, sodass ich in der Mitte den Boden nicht mit meinen Füssen ertasten konnte. Obwohl ich schlotterte, zwang ich mich, im Wasser zu bleiben.

Als ich mich endlich erhob, blickte ich direkt in Ciaranns dunkelbraune Augen. Er schmunzelte und ich erstarrte für einen Augenblick. Dann machte ich mich eiligst daran, in meine vor Schmutz etwas steife Kutte zu steigen.