Blutengel - verlassen (Leseprobe)

Prolog

 

Der Wind trug die über den Feldern herrschende Wärme zu ihm. Er schloss die Augen und sog die Luft tief in seine Lunge. Über dem schwarzen Gestein, das diese Gegend charakterisierte, musste sie flimmern. Er spürte es selbst hier, unter den letzten Bäumen des Waldes, der mit Schatten und kühlem Wasser gesegnet war.

Vor ihm breitete sich die Wüste aus. Entlang des Hügelzugs war es nicht schlimm. Polsterpflanzen wagten sich aus kleinen Ritzen, knorrige Büsche quetschten sich zwischen zwei Felsbrocken, um Wind und Trockenheit trotzen zu können.

Früher, als die Menschen noch keine dicken Mauern und Glaskuppeln gebraucht hatten, um sich vor der Natur zu schützen, hatten sie Tiere umgebracht. Insekten. Die meisten von ihnen waren lästig gewesen, die anderen hatten sie nicht gebraucht. Gleichzeitig hatten sie selbst begonnen, Lebewesen zu erschaffen, indem sie Erbgut veränderten, also den Kern, der ein Lebewesen ausmachte.

Sie hatten Erfolge gefeiert. Die erste Maissorte, die gegen sämtliche Frassfeinde resistent war. Kinder, die nach dem Wunsch ihrer Eltern gestaltet worden waren. Blumen, die nicht nur betörend dufteten, sondern auch kaum Pflege brauchten. Vor rund sechshundert Jahren hatten sie mit dem Quatsch begonnen.

Sie hatten Pflanzen aus dem Süden in den Norden getragen und umgekehrt. Damit diese nicht eingingen, hatten sie diese verändert – und vergessen, sie in den natürlichen Kreislauf einzubinden. Sie gingen nicht mehr zugrunde und wurden nicht gefressen.

Die Menschen hatten auch Insekten gegen die ungeliebten Insekten gezüchtet. Ihre Experimente hatten keine Grenzen gekannt, ihr Grössenwahn wuchs in Höhen, die er sich gar nicht vorstellen wollte.

Viel zu gern malte er sich ihren Schrecken aus, als sie erkannt hatten, welche Zerstörung sie verursacht hatten. Unbemerkt hatten sich die mutierten Lebewesen aus Laboren geschlichen oder waren gar ausgesetzt worden. Sie hatten Artgenossen gefunden und getan, was Artgenossen eben so tun, wenn sie nichts Besseres vorhaben: Sie vermehrten sich.

Seither wurden sie Unwesen genannt und beherrschten die Wälder, die Schluchten und die Felder. Die Berge, die Wiesen und so viel Land, dass die Menschen sich in Städte mit Betonmauern und gläsernen Kuppeln darauf zurückgezogen hatten. Ein rund fünfzehn Meter hoher Kreis, der sie gegen das Leben abschirmte, mit einem Glasdeckel, sodass sie die Sonne dennoch auf ihrer Haut spürten. So prangte auch die Stadt Erming wie eine traurige Trophäe aus der Erde, verloren und allein und potthässlich.

Die Menschen wussten nicht, wie das Leben rund um sie herum pulsierte, wie sich die Natur das zurückgeholt hatte, was sie ihr genommen hatten. Sie alle hatten vergessen, dass es etwas gab, das wichtiger war als Sicherheit: Leben.

In seinen Augen war es eine Schande, was die Menschen der Natur noch immer antaten. Sie versklavten die Erde rund um ihre Städte, um ihr eine Ernte abzuringen, für die der Boden nicht geschaffen war. Sie nutzten aus, was sich nicht wehren konnte. Immer achteten sie nur auf ihren eigenen Vorteil und sahen nicht einmal die Verluste, die sie verursachten.

Doch er würde es ihnen zeigen. Eines Tages würden sie seinen Namen kennen und fürchten.

Er mochte die Unwesen, denn sie waren genauso Lebewesen wie er auch. Sie waren Experimente, die man nicht mehr gebraucht und einfach weggeworfen hatte. Behandelte man die kleineren Unwesen gut, gehorchten sie und würden auch in einen Krieg ziehen. Manchmal glaubte er, zu einer grossen Herde zu gehören, die wie die Familie funktionierte, die er nie gehabt hatte.

Er griff sich an die metallene Haut an der Wange. Für seine Qualen würden die Menschen leiden. Er würde sie einen nach dem anderen aus ihren Löchern rupfen und entzweireissen, wenn es notwendig sein sollte.

»Kaer?« Die Stimme seines Vertrauten riss ihn aus seinen düsteren Gedanken, und er wandte den Blick von der hässlichen Stadt ab.

»Ich komme«, antwortete er geistesabwesend. Nicht mehr lange und er würde ihre Lebensgrundlage vernichten. Unwesen würden die Felder zerstören, der Hunger sie aus den dreckigen Löchern locken.

Und dann war die Rache sein.

Hasenbraten

 

Das Blut rauschte durch meine Adern, als ich dem Unwesen in einen kleinen Wald folgte. Es reichte mir bis knapp zu den Knien, besass ein flauschiges, grauschwarzes Fell, lange Kaninchenohren und ein Gebiss, das mir das Fleisch von den Knochen reissen konnte.

Augenblicklich wurde die Umgebung dunkler, doch ich hörte sein Schnauben, den aufgeregten Atem. Seine Tritte. Das Unwesen raschelte durch das Unterholz und wirbelte altes Laub auf, tauchte immer tiefer ein, bis es an Ort und Stelle verharrte.

Ein feines Lächeln huschte über meine Lippen, freudlos und fern jeglicher Wärme. Ich wusste, wie es wirkte. Mir wurde oft genug nachgesagt, dass ich zu kalt und hart wäre. Das hatte auch seine Gründe.

Die letzten Schritte bis zum Versteck des Unwesens schlich ich. Nur ein Ton zu nahe an seinem Ohr, und es würde erneut davonhetzen. Je eher wir den Auftrag beendeten, desto schneller konnten wir nach Hause gehen.

Das Laub auf dem Rücken des Unwesens zitterte. Seine Angst war förmlich zu riechen. Klebriger Gestank, der einem nicht nur das Herz rasen liess, sondern auch die Gedanken benebelte.

Ich stach mein Schwert durch den Haufen aus Laub und erschöpftem Unwesen. Erbarmen kannte ich nicht. Auf meinem Weg hätte es mir nicht viel mehr gebracht als den Tod. Mit dem Tod belohnten sie diejenigen, die sich den Befehlen widersetzten oder auf den Jagden nicht so erfolgreich waren, wie sie es sein müssten.

Überleben war eine Kunst. Zu meiner Kunst gehörte es, die Felder von Unwesen zu befreien.

Ich beugte mich über das Unwesen und wischte das Laub zur Seite. Blut floss im Takt seines langsamer werdenden Herzschlags aus der Wunde, die ich ihm durch den Bauch getrieben hatte.

Vorsichtig legte ich die Hand auf die Wange des Tieres. Das weiche Fell kitzelte meine Haut und liess für den Bruchteil eines Wimpernschlags Erinnerungen aufkommen, die ich augenblicklich verdrängte. Ich brauchte keine Gedanken an Wärme und an ein Zuhause. Ich brauchte lediglich etwas zu essen.

Ich zog mein Messer aus dem Gürtel und schnitt dem Tier die Kehle durch. Auch wenn es mein Auftrag war, die Felder vor den Unwesen zu schützen, war ich kein Teufel, der sich am Leid eines Lebewesens labte.

Die schwarzen, blutunterlaufenen Augen wandten sich mir zu, in ihrer Tiefe das Wissen, was ich getan hatte. Ein Schauder kitzelte über meinen Rücken und beschleunigte meinen Herzschlag. Ich hasste diesen Moment, wenn ich ein Leben nahm, obwohl es mein eigenes Überleben sicherte.

Der Puls des Unwesens verlangsamte sich weiter, bis er praktisch verschwunden war. Seine langen Ohren verloren an Spannung. Aus der Nase und dem mit spitzen Zähnen besetzten, viel zu breiten Maul floss schaumiges Blut. Ich sah ihm zu, wie es unter meiner Hand starb, weil ich glaubte, es ihm schuldig zu sein.

Unter seinem letzten Atemzug erzitterte es und schloss die Augen. Das Entweichen sämtlicher Spannung aus einem zitternden Körper hatte ich schon zu oft gesehen, und zu oft hatte es mich innerlich aufgewühlt. Auch diesmal war es nicht anders. Man würde nicht denken, dass ich schon Hunderte, wenn nicht gar Tausende dieser Viecher auf dem Gewissen hatte. Doch in Momenten wie diesen, wenn ich ganz allein war, nahm ich mir die Zeit, um mich zu verabschieden, und auch ein kleines bisschen, um mich zu entschuldigen.

»Es ist nur ein Auftrag«, flüsterte ich und schloss meine schweren Augenlider. Es war mehr als nur ein Auftrag, es war meine Lebensaufgabe.

Ich riss mich von meinen Gefühlen los, schloss sie weit weg und packte das Unwesen an den Hinterläufen, um es mir über die Schulter zu wuchten. Sein Gewicht drückte mich gegen den Boden, ich balancierte aus und setze mich in Bewegung. Meine Gefährten warteten bestimmt schon auf mich.

Ich prüfte den Stand der Sonne. Bald würde sie den Horizont berühren. Wir mussten uns beeilen, um nicht zum Opfer der nächtlichen Jäger zu werden. Sie suchten Leute wie uns heim, wenn sie uns in der Nacht erwischten. Deshalb zogen wir uns in die Katakomben zurück und schlossen die schweren Tore, bis der nächste Tag anbrach.

Mein Blick schweifte über die Landschaft, die sich vor mir ausbreitete. Weite Gemüsefelder mit Kürbissen, Erbsen und Mais, Kartoffeln, Karotten und Pflanzen, die ich nicht kannte, wechselten sich mit Obstbaumplantagen ab. Sie bildeten einen weiten Kreis um meine Heimatstadt Erming. Wie ein dunkles Mahnmal ragten die dicken Mauern in den Himmel. Die darauf liegende Glaskuppel spannte sich über die Stadt. Die Menschen im Inneren schirmten sich vor all den in der Wildnis lauernden Gefahren ab.

Die Menschen hassten Wesen wie uns. Sie nannten uns Gefallene und stiessen uns in ein dunkles Loch hinab, sobald sie unsere Fehlbildung entdeckten. Unter ihren Füssen lebten wir weiter – wir, ihre Töchter und Söhne, deren Gene unrein waren. Einigen wuchsen Teufelshörner aus der Stirn. Andere hatten sechs Finger oder eine geschuppte Haut.

Oft waren es kleine Fehler, die in meinen Augen kaum auffielen. Dennoch sorgten sie dafür, dass es nicht an Gefallenen mangelte. Weil sie in die Dunkelheit fielen, nannte man sie so. Sie waren jene, die die Unwesen und anderen Gefahren von Erming fernhielten.

Ich verstand die Menschen, irgendwie. An ihrer Stelle hätte ich mich auch nicht nach draussen gewagt. Besonders in der Nacht lauerten Bedrohungen hinter jedem Stein und unter jedem Busch. In letzter Zeit hatten uns gehäuft Berichte von anderen Gefallenen erreicht, die auf der Jagd überrumpelt und getötet worden waren. Einmal sollte das sogar einer ganzen Gruppe passiert sein, obwohl uns in unserer Ausbildung immer eingetrichtert worden war, dass so etwas nicht geschehen könnte. Solange wir in der Gruppe jagten, hatten die Unwesen keine Chance. Die Viecher waren klein, die meisten jedenfalls, und stellten keine Bedrohung für drei oder vier Gefallene dar. So jedenfalls die Lehre.

Ich schob die düsteren Gedanken weit von mir und machte mich mit meiner Beute auf den Weg zurück zu meinen Gefährten Tam und Miran. Nächstens würde es eindunkeln und mein Magen knurrte. Einen anderen Grund, das Unwesen mitzuschleppen, gab es nicht.

 

Der Weg über die Gemüsefelder zog sich in die Länge. Die Sonne hatte den ganzen Tag auf die dunkle Erde gebrannt und die oberste Schicht in das Miniaturbild einer zerklüfteten Landschaft verwandelt. Darunter zirkulierte in dünnen Schläuchen Wasser, das die Pflanzen nährte.

Einmal hatte ich einen solchen Schlauch ausgerissen, weil meine Kehle vor Trockenheit gebrannt hatte. Immerhin schützte ich diese Pflanzen, indem ich die Unwesen beseitigte. Also sollten sie auch gefälligst einen Schluck Wasser mit mir teilen. Es hatte modrig gestunken und war gelblich verfärbt gewesen. Vielleicht setzten sie ihm Substanzen zu, die die Pflanzen schneller oder besser gedeihen liessen.

Ich warf einen Blick nach Norden, wo sich voll behangene Obstbäume in den Himmel reckten. Einen Apfel oder eine Birne hätte ich gern gepflückt, doch ich war im Nordosten eingeteilt, zwischen riesigen Kürbissen und dicken Kartoffeln. Beim besten Willen verstand ich nicht, wie die Dinger den ganzen Boden anheben konnten, und das Jahr für Jahr. Knollen wuchsen, bis kein Platz mehr unter der Erde war und sie sich hob.

Auf der anderen Seite von Erming frass Vieh die nicht verwertbaren Reste der Felder oder rupfte Gras vom festgetrampelten Boden. Jeweils eine Handvoll Gefallene kümmerte sich um die Tiere, damit die Menschen auch mit Milch und Fleisch versorgt werden konnten. Jäger wie wir wurden kaum dort eingesetzt. Offenbar gelüstete es den Unwesen nicht nach frischem Fleisch, und die fleischfressenden Kaninchen taten sich lieber an kleinen, einfacher zu erbeutenden Unwesen gütlich.

In der Ferne erhoben sich die Stadtmauern von Erming. Das Gebilde aus grauem, fast schwarzem Gemäuer und der Glaskuppel wirkte nicht sehr einladend, doch das sollte es auch nicht. Niemand wollte, dass die Unwesen aus der Natur in die Stadt gelangten. Mit ihrem Dreck würden sie das System zum Zusammenbruch bringen.

»Na, endlich bist du da«, rief Tam. Er winkte mich mit seiner dunkelbraunen Hand näher. Miran und er hatten sich im Schatten eines Steinbrockens niedergelassen und genossen die frühabendliche Ruhe.

Erleichtert, dass sie trotz der Gefahren auf mich gewartet hatten, setzte ich mich zu ihnen. Diese kurze Pause gönnte ich mir.

Miran hielt mir einen ledernen Wasserschlauch hin. Das Wasser schmeckte scheusslich, so lau, wie es war, doch ich trank gierig. Auf der Jagd war ich mit leichtem Gepäck unterwegs: Ein Messer und mein Schwert, mehr brauchte ich nicht. Wenn mich ein Unwesen erledigte, sollte es sich abgesehen von mir nicht über weiteres leckeres Essen freuen können.

Miran nahm den deutlich leichteren Wasserschlauch entgegen. »War ein harter Tag«, begann er das Gespräch und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die warme Stadtmauer.

Ich nickte, während mein Blick über die Felder schweifte. Es war ruhig. Nicht einmal ein Windhauch strich über die Rispen und Blätter der Gemüsepflanzen.

»Die Unwesen waren heute erstaunlich zäh.« Damit meinte ich nicht nur das fleischfressende Kaninchen neben mir, sondern das andere Dutzend, das den Tod durch unsere Hand gefunden hatte. »Manchmal frage ich mich, woher sie kommen. Es sind so viele … Als würden sie jeden Tag aufs Neue auferstehen und uns die Hölle heissmachen.«

Tam lachte freudlos auf. »Keine Sorge, dafür ist die Sonne da.«

»Ist auch kein Wunder, bei all diesen schwarzen Brocken, die herumliegen.« Ich machte eine kurze Pause und blickte in die Ferne. Im Dunst des späten Nachmittags erhob sich eine Bergkette in die Höhe: das Adamantmassiv. Es wirkte bedrohlicher und dunkler als alles, was ich mir in der Nähe von Erming vorstellen konnte. »Wart ihr schon einmal dort?«

Miran schüttelte den Kopf. »Wenn die Unwesen von dort kommen, sollen sie auch dort bleiben. Mir reicht es, sie hier zu jagen.«

Da konnte ich ihm nur zustimmen. »Die hätten die Stadtmauern besser um die Felder als um die Häuser gebaut.«

Tam lachte, und Miran stand auf. Lange würden die Tore nicht mehr offen bleiben, und keiner von uns war erpicht darauf, die Nacht auf den Feldern zu verbringen. Zu viele Geschichten und Halbwahrheiten rankten sich um die Dunkelheit, wenn die Sonne unterging. Die Angst stank, so präsent war sie.

Gerade noch rechtzeitig erreichten wir die Treppe, die zu den Toren führte, hinter denen die Katakomben auf uns warteten. Wir eilten die Stufen hinab, das hübsche Häschen auf meinen Schultern, und hörten das Schaben der schweren Steintore, als die Wächter sie zuzogen.

»Warte!«, rief Tam und beschleunigte seine Schritte, sodass die Wächter ihn sehen konnten.

Das Schaben verstummte. »Ihr seid spät dran«, brummte ein Wächter.

Ich hiess die kühle Luft im Gang willkommen, ein Grinsen schlich sich in mein Gesicht. »Dafür haben wir einen zuckersüssen Hasenbraten«, flötete ich, als ich mich mit der Beute durch den schmalen Spalt ins flackernde Licht des Tunnels quetschte.

Wir waren zu Hause.

Einer der Wächter erwiderte mein Grinsen. »Für dich und dein süsses Kaninchen würde ich das Tor auch mitten in der Nacht öffnen«, versprach er. Seine blonden Haare fielen ihm in die Augen, sodass er sie mit einer Kopfbewegung nach hinten warf. Ich kannte ihn schon eine Weile, hatte ihn jedoch nie nach seinem Namen gefragt.

Lachend drehte ich mich um, als wir uns von den Wächtern entfernten. »Solange du es ausnimmst und mir zum Frühstück brätst, bin ich dabei.«

Dabei trank ich lieber einen gezuckerten Kaffee mit einem Schuss Mandelmilch. Doch das Schäkern lenkte mich für einen Moment davon ab, dass wir der Abschaum der Menschen waren – immer sein würden, obwohl diese Gesellschaft ohne uns keine Woche überleben würde. Sie wischten sich ihre fetten Hintern mit weichen Tüchern ab und glaubten, die Welt zu kennen. In Wahrheit sassen sie in einem Gefängnis aus Beton und einer Glaskuppel. Sie spürten keinen Wind auf ihren Wangen, wussten nicht, wie sich ein Sturm anhörte, wie die Weite roch.

Vielleicht würde ich sie bemitleiden, wenn sie Lebewesen wie uns nicht einfach in die Katakomben schicken würden, damit ihre empfindlichen Augen uns nicht sehen mussten.

Wir folgten dem Gang, der in regelmässigen Abständen von einer flackernden Lampe erhellt wurde. Ich hatte keine Ahnung, wie die Herrschaften an der Oberfläche es schafften, in ihrem sterilen Licht zu überleben. Es schien von überall und nirgends zu kommen. In den Katakomben mussten wir uns mit diesen alten Dingern zufriedengeben. Es wäre ein Leichtes, ihr Beleuchtungssystem auch bei uns einzurichten, jedenfalls glaubte ich das. Doch uns würden sie nichts gönnen, solange es noch etwas Älteres, eine weniger aufwendige Alternative gab. Wir waren der Abschaum, weil wir nicht ihren Vorstellungen von richtig entsprachen.

Ich knurrte bei meinen düsteren Gedanken, die mich schon wieder überkamen.

Tam drehte sich zu mir um und schenkte mir ein schräges Lächeln. Seine dunkelbraune Haut schimmerte im schwachen Licht und betonte die weissen Zähne. »Du solltest nicht zu viel daran denken.«

»Du hast keine Ahnung, woran ich gerade denke«, gab ich mürrisch zurück.

Er lachte, und Miran fiel mit ein. »Wir kennen dich schon eine halbe Ewigkeit. Wenn dein Mund so schmollt, denkst du an die Herrschaften an der Oberfläche, die wieder mal etwas haben, das uns nicht vergönnt ist.«

»Manchmal frage ich mich, wer hier die wahren Feinde sind.« In solchen Momenten konnte ich ihre Fröhlichkeit nicht ausstehen. Im Gegensatz zu mir erinnerten sie sich nicht an Erming und hatten keine Ahnung, wie gut es den Menschen ging, die nichts zu befürchten hatten.

Miran klopfte mir auf die Schulter und schob mich energisch weiter. »Wir sind deine Freunde, junge Frau«, betonte er einmal mehr. Bevor er die eiserne, teilweise mit Rost belegte Tür zu unserem Quartier öffnete, bedachte er mich mit einem intensiven Blick. »Auch wenn du es nicht zugeben willst, du brauchst uns, genauso wie wir dich brauchen. Wir sind ein Team. Ohne einander würden wir nicht überleben – besonders du nicht.«

Ich schluckte und nickte. Mit einem hatte er recht: Ich brauchte sie. Doch sie waren nicht meine Freunde. Auch wenn ich mich gut mit ihnen verstand und froh war, dass sie in meinem Team waren, konnte ich sie nicht als meine Freunde sehen. Nicht als meine wahren Freunde. Mit echten Freunden sprach man auch über nicht offensichtliche Probleme. Man vertraute einander mehr als jedem anderen. Ich hingegen vertraute nur mir selbst.

Nacheinander traten wir in die stickige Luft. Ein alter Ventilator surrte in der Ecke und pumpte viel zu wenig Frischluft in den Raum, in dem knapp fünfzig Gefallene sassen. Sie alle hatten etwas, das sie von Menschen mit reinem Erbgut unterschied: einen Arm zu viel, Hörner auf dem Kopf, eine Nase, die bis zum Kinn reichte. Für uns waren unsere Missbildungen normal. Wir hatten gelernt, damit zu leben.

Tam hatte seine schwarzen Daunenfedern anstelle von Haaren, selbst an seinem Kinn wuchsen sie. Mirans Erscheinung erinnerte an einen Nachfahren des Teufels. Für uns war es ein alltäglicher Anblick, der uns keinen zweiten Blick kostete.

Ein Bursche in hellen, fleckigen Kleidern huschte zu mir, als er mich entdeckte. Seine Augen ruhten auf dem fleischfressenden Kaninchen, das über meiner Schulter baumelte. Ich liess es sinken, sodass er es mitnehmen und für das Abendessen vorbereiten konnte. Wahrscheinlich kochte er es in einer Suppe, damit jeder etwas davon abbekam. Das nächste Mal würde ich meine Beute auf dem Feld braten, damit auch wirklich die etwas davon hatten, die dafür gearbeitet hatten. Mir war nicht entgangen, dass ich mit Abstand am meisten Fleisch nach Hause brachte.

Erschöpft setzte ich mich zwischen Tam und Miran auf eine Bank, die zusammen mit vier anderen in einem Kreis angeordnet war. Im Winter standen Heizkörper in der Mitte, doch bei dieser Hitze draussen war es nicht notwendig. Wir alle trugen die Wärme des Tages noch in uns und morgen würde es sowieso wieder viel zu heiss werden.

»War es bei euch auch so ruhig?«, fragte ein anderer aus der Runde. Ihm wuchs schwarzes, seidig schimmerndes Fell am ganzen Körper. Auch seinen Namen kannte ich nicht. Es reichte, dass ich Miran und Tam an meiner Seite hatte. Wenn diejenigen mit Namen verschwanden, brach es einem das Herz. Und Gefallene wie wir verschwanden oft.

Miran schüttelte den Kopf, den Mund zu einem schwachen Lächeln verzogen. »Nicht wirklich. Die Kürbisse scheinen die Viecher im Moment anzulocken wie das Licht die Motten. Aelys hat noch ein letztes Karnickel erwischt, bevor die Sonne unterging.«

Das war ein bisschen zu dramatisch formuliert, doch ich widersprach ihm nicht. Ich kümmerte mich nicht wirklich um die Leute hier. Nähe bedeutete Gefahr. Mir war es lieber, wenn Miran und Tam von unseren Erlebnissen erzählten und ich mich abschotten konnte.

Der Unbekannte schüttelte den Kopf leicht, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass eine Frau dazu fähig ist.«

Innerlich seufzend, hob ich den Blick und betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. Ich war kleiner als die meisten hier. Schwächer. Und um einiges tödlicher. Das wussten sie. Spätestens wenn ich sie ansah, als wollte ich mich im nächsten Moment auf sie stürzen, brach ihnen der Angstschweiss aus. »Ich kann auch einzelne Körperteile entfernen, bevor ich jemandem den Mund stopfe.«

Ich stand auf und begab mich zu den Waschräumen, hatte genug von dem Gerede und den heimlichen Gedanken, die die Männer hegten. Erschöpft blickte ich in den dreckigen Spiegel über dem Waschbecken, auf dessen Rand ich mich abstützte. In diesen Augen, so funkelnd blau sie auch waren und zu meinen Haaren passten, wohnte eine tiefe Dunkelheit. Ich wusste, woher sie kam. Seit wann sie in mir war. Der erste Funke war im Alter von vier Jahren aufgeglüht, der zweite im vergangenen Winter.

Ich breitete meine Flügel aus. Sie waren schwarz wie die Nacht, verschlangen das letzte Licht, das von den beschlagenen Fenstern am oberen Rand der einen Raumseite zu mir drang, und hüllten mich in die Schwärze, die seit Wochen, Monaten in mir Platz gefunden hatte.