Der Wintergöttin gefrorenes Herz (Leseprobe)

Prolog

 

Die Stadt lag ruhig da. Nur aus zwei Fenstern drang schwaches Kerzenlicht auf die Strassen und erhellte die sternenklare und doch dunkle Nacht. Sie liebte Neumondnächte, denn sie verkörperten die vollständige Abwesenheit der Sonne und ihrer Wärme. Obwohl der weisse Schnee jeden Funken Licht reflektierte, hatte die Dunkelheit diesen Teil der Welt vollkommen im Griff.

Sie stand auf einem Hügel und überblickte den Ort, von dem eine andere Wärme strahlte. Eine, die niemals gedeihen, sondern für immer aus den Eisenbergen verschwinden sollte.

Als sie sich in Bewegung setzte, berührten ihre Füsse den Schnee, hinterliessen jedoch keine Abdrücke. Lautlos schwebte sie über die weiche Decke auf die schlafende Stadt zu, hin zu dem Quell, der ihr Vermächtnis bedrohte.

Die Strassen waren wie ausgestorben, doch das überraschte sie nicht. Nicht mehr. Seit jeher mochten die Menschen diese durchdringende Kälte nicht, die die Luft erfrischte und den Lebensgeistern neuen Schwung gab. Sie jagten sie davon, indem sie Feuer entzündeten und sich unter Decken verkrochen.

Wie armselig sie waren. So schwach.

Zögerlich schwebte sie über den festgetretenen Schnee. Er fühlte sich unnatürlich an, als wäre er in eine Form gepresst worden, die ihm nicht behagte. Die verwirrenden Gedanken abstreifend, konzentrierte sie sich auf ihr Ziel, ein Kind in seinem Bett.

Die Suche kostete sie nur wenige Augenblicke. Das Mädchen war warm wie die anderen Bewohner auch, doch es strahlte etwas anderes aus – etwas, von dem sie noch nicht sicher war, was es bedeutete. Doch Wärme könnte sie bedrohen, also musste sie sie vernichten, bevor sie ihr wirklich gefährlich werden konnte.

Beim Haus angekommen, horchte sie in die Stille. Noch immer regte sich nichts, doch wer sollte sie denn auch entdecken. Sie war Kälte. Sie war Winter. Sie war Eis.

Sie trat zur Eingangstür und fror das Schloss ein. Nur einen Moment später gab das alte Eisen unter ihrem Druck nach und die Tür schwang auf. Warme, muffige Luft schlug ihr entgegen. Nur mit Mühe widerstand sie dem Verlangen, die Armbeuge vor das Gesicht zu halten und den Gestank daran zu hindern, in ihre Lunge zu dringen.

Sie nahm sich keine Zeit, das Haus zu betrachten. Es interessierte sie schlicht nicht, abgesehen davon kannte sie ihr Ziel: das Kind im oberen Stock. Sie sollte nicht zögern, sich dem Leben der Menschen nicht annehmen, so faszinierend es auch sein mochte.

Ohne ein Geräusch zu verursachen, fand sie die Treppe und betrat sie. Bei einer Stufe knarrte das Holz, sie hielt den Atem an, doch im Haus regte sich nichts. Eilig schlich sie weiter und betrat das Zimmer des Kindes.

In einem karg eingerichteten Raum standen ein Bett, eine Kommode und ein Schrank. Unter einer dicken Decke schlief das Mädchen, das so voll Wärme glühte, dass es in ihrem Bewusstsein beinahe schon schmerzte.

Vorsichtig trat sie näher. Tatsächlich, in der Brust brannte etwas, das sie bisher noch nirgends sonst gesehen hatte, doch sie konnte es nicht benennen, noch nicht einmal einordnen. Ausser, dass es warm war. Und kräftig.

Sie hob ihre Hand über den schmächtigen Oberkörper des Mädchens und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Beinahe roch sie die Kraft des Kindes, die von dessen Brust ausging, so intensiv strahlte sie nach aussen.

Normalerweise wartete sie vor den Stadttoren, sandte den Traum von Frühling und Wärme hinein und liess die von ihr auserwählten Mädchen den Weg bis zu ihr allein gehen. Diesmal war sie zu neugierig gewesen. Sie hatte ergründen wollen, was diese Wärme verursachte, obwohl doch nur Kälte existieren dürfte, damit niemand verletzt werden konnte. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte das von dem Mädchen ausgehende Gefühl weder erfassen noch ergreifen. Die Magie war da und doch nicht.

Dennoch, es gab eine Quelle in dem Mädchen, etwas, das sie bisher nicht für möglich gehalten hatte. Sie musste versuchen, sie für sich zu gewinnen. Endlich könnte es gelingen, eine Nachfolgerin zu lehren, jemanden zu finden, der das Leben an ihrer Seite verbringen würde, ohne dabei zu weinen oder zugrunde zu gehen.

Vorsichtig und mit vor Vorfreude aufgeregt klopfendem Herzen wob sie das Versprechen des Frühlings, legte Hoffnung hinein – ihre eigene – und sandte sie zu dem Kind. Es atmete tief ein, blieb einen Augenblick regungslos liegen, dann hustete es. Unruhig drehte es sich von der einen Seite auf die andere, murmelte unverständliche Worte. Gleichzeitig wurde ihre Magie zurückgeschickt, als wäre es lediglich ein Lichtstrahl, der auf einen gefrorenen See traf.

Sie taumelte zurück, starrte das Mädchen an. Es hatte sich beruhigt, auf seinen Lippen glaubte sie, ein feines Lächeln zu sehen.

Unmöglich! Kein Kind konnte sich einfach so vor ihrer Magie schützen, erst recht kein schlafendes. Doch die Verlockung, die sie ihm gesandt hatte, rieselte zu ihr zurück und schien ihr zu sagen, dass das Kind schon längst eigene Träume hatte.

Das Mädchen könnte ihr gefährlich werden.

Sie trat einige Schritte zurück, verliess das Zimmer, ohne einen Plan zu haben, wie sie ein Kind aus dem Weg räumen konnte. Einerseits wusste sie, dass sie keine Wahl hatte, andererseits konnte sie ihre einzige Hoffnung auf eine Nachfolgerin nicht ohne Weiteres zunichtemachen.

Verwirrt und überfordert eilte sie hinaus, verliess die Stadt, betrat ihr Reich. Ein Kind, das ihrer würdig sein könnte. Eine Frau, die ihre Magie erlernen und sie ebenso vielfältig einsetzen könnte wie sie.

Oder eine Gegnerin, die sie zu vernichten drohte.

Egal, sie musste und würde einen Weg finden, die Gefahr unschädlich zu machen. Doch erst musste sie das Kind in ihr Reich locken. Ihr einen Handel anbieten. Sie testen. Dann konnte sie weiter entscheiden. Ja, das klang nach einem guten Plan.

Mit dem Zurückschicken ihrer Magie hatte das Mädchen ihr etwas geschenkt, von dem sie nie zu träumen gewagt hatte: Hoffnung.

 

Der Atem des Winters

 

In kaltem Weiss und Gelb glitzerte der viele Schnee unter der Mittagssonne, die es nur knapp über die Scherspitze schaffte. Ich schätzte den Verlauf flüchtig ab, wandte mich jedoch gleich wieder meiner Freundin Lianna und deren Nichte Hilda zu. Dick in unsere Mäntel, Schals und Mützen gehüllt, entfernten wir uns von Eisentor. Eisiger Wind blies uns entgegen, als wollte er uns verhöhnen und fragen, was genau wir hier taten. Als hätte der Winterbär höchstpersönlich ihn beauftragt, uns zu vertreiben. Doch ich wusste es, ohne jemanden zu fragen: Eisentor würde bleiben. Keine Stadt dieser Welt konnte so stur sein wie unsere Heimat.

»Wenn du so tief in Gedanken versunken bist, bilden sich Falten auf deiner Stirn«, unterbrach Lianna lachend meine Vorstellung einer von Menschen leer gefegten Stadt.

Ich rieb mir über die Stirn und schob dabei die wollene, mit Schaffell zusätzlich gefütterte Mütze hin und her. »Solange es so kalt ist, kann ich faltig werden, wie ich will. Sieht sowieso niemand.« Ich grinste breit, doch auch das konnte sie höchstens an meinen Wangen erahnen, denn den Mund hatte ich im hochgeschlagenen Kragen meines Mantels versteckt.

»Tante Lianna?« Hilda hüpfte ein paar Schritte voraus und warf ihrer Tante einen hoffnungsvollen Blick aus grossen Augen zu. »Wirfst du mich in den Schnee?«

Das Mädchen war der heimliche Schatz meiner besten Freundin und so etwas wie eine Tochter für sie. Hin und wieder machten wir einen Ausflug mit ihr, was in Eisentor bedeutete, dass wir uns vor die Stadtmauern wagten, ein paar Sonnenstrahlen auf fast komplett verhüllten Gesichtern genossen und wieder zurückkehrten.

Lianna tat, als wäre sie entsetzt, und riss die Augen auf. »Was, in den Schnee? Aber da finden wir dich doch niemals wieder!«

Die Kleine kicherte. »Ich schreie dann.«

»Na gut«, lenkte Lianna scheinbar schweren Herzens ein und schüttelte die Arme, als müsste sie sich bereit machen. »Also, ich kommeeeeee!«

Noch bevor Lianna auch nur den ersten Schritt getan hatte, flitzte Hilda kreischend davon, lachte, kreischte erneut und rannte. Unwillkürlich fragte ich mich, wann sie dazu noch atmete, doch sie eilte immer weiter die Strasse entlang. Meine Freundin hetzte ihr hinterher, liess sich zwischendurch zurückfallen und holte dann wieder auf, um ihrer Nichte ein weiteres, glockenhelles Lachen zu entlocken. Ich beeilte mich, zu ihnen aufzuschliessen. Gerade als ich die beiden eingeholt hatte, packte Lianna das Mädchen und hob es in die Luft. Das Kreischen gellte durch das Tal, dass sich eine Lawine lösen und zu Tal donnern müsste. Doch nichts regte sich.

Hilda zappelte wie verrückt, um sich aus dem Griff zu befreien, als ich meiner Freundin zu Hilfe eilte und die Kleine an den Schuhen packte. Ein Blick zu Lianna genügte, und gemeinsam zählten wir: »Eins … zwei … drei!«

In hohem Bogen warfen wir Hilda in den tiefen Schnee, lachten und freuten uns über das bisschen Freiheit, das wir ergattert hatten, über den Moment, der nur uns gehörte, allein zwischen den tief verschneiten Bergen und einem Winter, der nicht enden würde.

»Tante Lianna? Wieso gibt es den Winterbären?« Hilda schien meine Gedanken erraten zu haben, oder sie war mit den Blicken den meinen gefolgt, um sie zu deuten, obwohl sie noch im Pulverschnee lag.

Lianna packte ihre Hand, zog sie aus dem Schnee und klopfte sie frei, so gut es ging. »Weil die Männer nach der Arbeit gerne ein kühles Bier oder einen warmen Eintopf haben.«

Als Hilda kicherte, leuchteten ihre Augen auf. »Nein, nicht der Winterbär. Der richtige!«

»Das ist doch der richtige«, antwortete Lianna und richtete sich grinsend auf. »Aber wenn du etwas über den Winterbären erfahren willst, solltest du Tante Rani fragen.«

Obwohl ich nicht ihre wirkliche Tante war, nannte sie mich so. Meistens sah sie mich nur zusammen mit Lianna, und da wir gleich alt waren, hatte sich die Ansprache einfach eingeschlichen. Mich störte es nicht, nur meine Mutter rügte mich zwischendurch, dass man so etwas doch nicht machte und das Kind nur verwirrt sein würde.

Über mein Gesicht huschte ein Schmunzeln, das ich mir nicht komplett verwehren konnte. Ich hasste den Winterbären, weil er mich in dieses langweilige, von Schnee und Kälte bestimmte Leben gezwungen hatte, gleichzeitig aber sog ich jede Information auf, die ich über ihn nur finden konnte.

»Der Winterbär ist ein grosses Geheimnis«, begann ich leise, den Blick über die Bergspitzen schweifen lassend. »Einige Erzählungen berichten, dass er sich die Macht der Eisenberge zunutze machen will, um die gesamte Welt zu erobern. Ausserdem soll er wütend sein, weil niemand mehr zu ihm betet. Als Gott des Winters und der Kälte kann ich ihn verstehen, das heisst aber nicht, dass ich ihn deswegen mag.«

»Und wieso nicht?«

»Weil das hier kein Leben ist«, antwortete ich leise.

Es war keine Antwort, die man einem Kind gab. Doch in diesem Moment hatte ich nicht überlegt, hatte einfach gesagt, was mir durch den Kopf geschossen war, und vergessen, mit wem ich sprach.

Mit in den Nacken gelegtem Kopf drehte sich Hilda um die eigene Achse. »Ich mag es. Wir haben immer Schnee und können am Feuer zusammensitzen, um uns zu wärmen. Gesellschaft ist gut für die Seele«, schob sie hinterher. Ihrem ernsten, auf mich gerichteten Blick war anzusehen, wie oft sie diese Worte von Erwachsenen gehört hatte.

Erwachsene, die ihre Träume schon vor Jahren begraben hatten. Niemand hier hoffte noch auf Besserung. Am Morgen standen wir auf, legten Holz ins noch schwelende Feuer, nahmen einen warmen Haferbrei zum Frühstück ein, gingen arbeiten, kamen zurück und feuerten unsere Öfen erneut ein. Jeder Tag glich dem anderen, jahrein, jahraus. Nicht einmal die Jahreszeiten erfreuten uns, denn hier war immer Winter.

Leise seufzte ich. »Der Winterbär tut nichts Gutes. Er nimmt uns nur die, die wir lieben.« Mein Blick glitt zur Stadt, die sich hinter wuchtigen Mauern verbarg, obwohl dies nicht nötig gewesen wäre. Die wenigen Menschen, die sich hierherverirrten, freuten sich auf eine scharfe Suppe und ein warmes Bett und würden uns sicher nicht angreifen. Wozu auch? Das Eisen allein wäre kein Grund, uns das Leben zur Hölle zu machen, denn wenn jemand Eisentor eroberte, würde dieser Jemand hier leben müssen. Eine schlimmere Strafe konnte ich mir nicht vorstellen.

Doch, eine schon. »Weisst du, dass der Winterbär manchmal kommt, um ein kleines Mädchen aus unserer Mitte zu reissen?«, fragte ich in die ungewohnte Stille. Normalerweise plapperte Hilda wie der Wind, der den Bergspitzen aufregende Abenteuer aus der Ferne erzählte.

Sie schüttelte den Kopf, sodass die noch etwas zu grosse Mütze beinahe von ihrem Kopf flog.

»Meine Tante, die kleine Schwester meines Papas, wurde entführt, als sie etwa so alt war wie du.« Ich sah der Kleinen fest in die Augen, erkannte die Furcht darin, das Wissen darum, dass es jederzeit wieder geschehen konnte.

»Das reicht«, unterbrach mich Lianna mit fester Stimme. »Wir müssen nach Hause.«

Ich wusste genau, dass die Zeit noch nicht so weit fortgeschritten war, doch vermutlich hatte ich mich zu sehr von meiner Abneigung gegen den Winter treiben lassen, und Lianna wollte ihre Nichte vor mir schützen.

»Jetzt schon?« Hilda verzog das Gesicht zu einer missmutigen Grimasse.

Halbherzig lächelte ich und streckte die Hand aus. »Komm, ich zeige dir ein paar Blumen.«

Am Rand des Weges kniete ich mich in das festgetrampelte Weiss, froh darum, dass all die dicken Stoffe, die mich vor der Kälte schützten, auch verhindern würden, dass meine Beine nass wurden. Mit den Händen malte ich einen Kelch in den Pulverschnee.

»Das ist eine Tulpe«, erklärte ich leise. »Tulpen sind die Blumen, die im Frühling fast als erste aus dem Boden schiessen und die Wiesen mit bunten Tupfen sprenkeln.«

Mit ihren grossen blauen Augen starrte Hilda erst die in den Schnee gezeichnete Blume, dann mich an. »Hast du schon eine Tulpe gesehen?«, fragte sie. »In echt?«

Ob ihrem Staunen musste ich lachen, obwohl mir nicht danach war. »Nein.« Als mich die Sehnsucht mit ungeahnter Wucht traf, seufzte ich. »Nein, ich habe noch keine Blume in echt gesehen.«

»Tante Rani verbringt eben viel Zeit in der Bibliothek«, kam Lianna mir zu Hilfe.

Als ich aufstand, lachte ich leise in mich hinein. »Das war früher einmal. Doch es gibt keine Bücher mehr, die mich interessieren.«

Auch wenn es unmöglich sein konnte, wurden Hildas Augen noch grösser. »Du hast die alle gelesen?«

»Nein, nicht alle.« Abermals lachte ich leise.

Ich hatte alle gelesen, die etwas über Blumen oder den Winter zu berichten hatten. Alle, die mir nur einen kleinen Hinweis darauf geben konnten, wie ich hier wegkam oder dem Winter ein Ende bereiten konnte.

Beides war unmöglich.