Im Bann der Feuerfrau (Leseprobe)

Alter Tempel

 

Mit einem erleichterten Seufzen trat ich in den Schatten des Ganges, der zum Alten Tempel führte. Es war einer der letzten warmen Herbsttage in diesem Jahr, und ich genoss die kühle Luft des Zugangs. Leise hallten meine Schritte von den hellbraunen Wänden wider, auf denen das Licht vereinzelter Fackeln schimmerte.

Hinter einer lang gezogenen Biegung lag der Tempelraum. In der Mitte schimmerte ein Teich, vielleicht drei Manneslängen im Durchmesser, und spiegelte die sieben primitiven Katzenstatuen, die ihn beobachteten. Am Grund entsprang eine Quelle, ohne die Wasseroberfläche zu kräuseln. Der Teich verengte sich zu einem Bach, der über den geschliffenen Boden floss, um sich beim zweiten Ausgang an der Felswand in die Tiefe zu stürzen. Die Schlucht dort war unwirtlich und meist von Nebel so verhangen, dass nur wenige Augen das ganze Tal jemals in einem Stück erblickt hatten.

Auf einem Podest harrte nicht nur ein Altar der nächsten Opfergaben, sondern auch die Statue, die eine schwangere Frau und einen Mann in inniger Umarmung zeigte. Auch wenn die Gesichtszüge nur grob aus dem hellen Stein gehauen waren, erkannte ich in der Nase der Frau jene von Gael sofort. Über all die Generationen hinweg hatte sie dieses Merkmal an ihren Urahnen und Erben weitergegeben.

Mein bester Freund sass tief in Gedanken versunken zwischen Statue und Altar und lehnte sich an den kühlen Steinquader. Wie so oft hatte er seine blonde Löwenmähne zu einem dicken Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Hände ruhten auf den angewinkelten Knien, die Augen hielt er geschlossen. Trotzdem wirkte es, als würde er das Paar aus Stein um Rat fragen.

Ich setzte mich neben ihn und hiess den kühlen Altar am Rücken willkommen. Seit ich schwanger war, wechselten sich Hitzewallungen mit Schüttelfrost in nicht vorhersehbarem Rhythmus ab. Die Einzigen, die damit zufrieden schienen, waren Herr Hitzewallung und Herrin Schüttelfrost. Jetzt gerade begrüsste ich den kühlenden Felsen, aber vielleicht war das nur der Weg zu Herrin Schüttelfrost.

Gael seufzte und öffnete die Augen. Ich wandte ihm den Kopf zu. »Weisst du, wie beschissen es ist, plötzlich Entscheidungen treffen zu müssen?« Er sah mich mit seinen durchdringend hellblauen Augen an, in denen ich neben seiner ihm eigenen Ruhe auch die Last der letzten Tage erkennen konnte. »Also Entscheidungen, die nicht nur mich betreffen.«

Ich lächelte schwach. Seine Verunsicherung war nur allzu verständlich, nach allem, was passiert war. Die letzten Wochen hatten dazu geführt, dass sich zwei verfeindete Druidenstämme zu einem zusammengeschlossen hatten und er deren Anführer war.

»Ich mag es mir gar nicht vorstellen«, antwortete ich auf Gaels Frage. Ich wusste, dass er noch nicht in seine neue Aufgabe hineingewachsen war. Mit all den Erwartungen und Hoffnungen, die Faelhias Erbe mit sich brachte, war es kein Wunder, dass er noch nicht in seine neue Rolle gefunden hatte. Nach nur vier Tagen konnte das niemand von ihm erwarten.

Gael holte tief Luft. »Sie alle wollen etwas von mir – Antworten, Pläne, die rettende Idee, uns aus diesem Schlamassel zu ziehen. Etwas Grosses. Dabei weiss ich nicht einmal, wie viel Schnee fallen wird und ob wir genügend Nahrungsvorräte gesammelt haben. Ich kenne die Leute nicht, die ich nun anführen soll!« Er schnaubte leicht, etwas, was er sonst nie tat.

Ich legte ihm eine Hand auf den Arm und drückte ihn leicht. »Du wirst das Richtige tun. Und ich bin immer für dich da.«

Gael schenkte mir eines dieser Lächeln, die mich seit unserer Kindheit von innen wärmten und mir ein Gefühl von Heimat schenkten. »Sei du erst einmal für euch da.«

Über meinen Bauch streichelnd, versuchte ich, mir das kleine Wunder unter meinem Herzen vorzustellen. Ich durfte an meine Zukunft denken, zum Wohle unserer Tochter. Ciarann und ich würden ihr all die Liebe schenken, die uns miteinander verband. Auch wenn es noch nicht viele Leute wussten, würde sie ein Zeichen der Verbundenheit unserer Stämme sein, ein erstes Band zwischen ehemaligen Feinden. Ein warmes Kribbeln breitete sich von meinem Bauch bis zum Herzen aus und wurde zu einem Leuchten, das mich die unendliche Liebe einer Mutter erahnen liess.

Ich riss mich von meinen eigenen Gedanken los, um meine Aufgabe zu erfüllen, die mich hierhergeführt hatte. »Thamrath schickt mich. Er will dich sprechen. Es geht um die Zuständigkeiten und deine Berater.«

Gael rollte mit den Augen. »Ein Thema, das ihm keine Ruhe lässt. Am liebsten hätte er alles schon geregelt.« Er seufzte leise.

Ich schätzte seinen Mentor Thamrath sehr, einen hoch gewachsenen, besonnenen Mann aus dem Stamm der Wasserdruiden, der als einer der Jüngsten jemals in den Rat der Ältesten einberufen worden war. Nun war er der engste Vertraute des neuen Stammesführers der Erden- und Wasserdruiden.

Ich legte den Kopf leicht schief, um Gaels Mienenspiel beobachten zu können. »Warum fällt es dir denn so schwer, diese Entscheidungen zu fällen?«

Abermals seufzte er und lenkte den Blick auf die Statue der Frau, die ihn mit mildem Blick zu mustern schien. »Sie werden für die Zukunft zweier Völker entscheidend sein. Was, wenn sie nicht akzeptieren, dass ich den Gehörnten anbete? Oder wenn ich dich und Thamrath als meine Berater ernenne und damit alle Überlebenden des Wasserclans eine wichtige Position einnehmen? Das werden die Druiden nicht gutheissen.«

Ich atmete tief ein und dann wieder aus. »Ich verstehe dich«, gab ich leise zu. »Allein der Gedanke an deine Aufgabe lässt meinen Bauch sich zusammenziehen.«

»Und der sollte erst einmal wachsen.«

Ich warf Gael einen flüchtigen Seitenblick zu, nahm sein breites Grinsen und das Leuchten in seinen Augen wahr und schlug mit dem Handrücken gegen seine Schulter. »Sieh nur zu, dass deiner nie so rund wird.«

Als hätte er seine Sorgen für einen Augenblick vergessen, lachte Gael auf. »Vielleicht wäre das sogar hübsch?«

»Bestimmt nicht so hübsch wie meiner im kommenden Frühling.«

Sein breites Lächeln wandelte sich zu einem zufriedenen Strahlen. »Es tut so gut, dass du hier bist, Sono.«

Schweigend nickte ich, mir erging es nicht anders. Obwohl Ciarann mein Herz wie im Sturm erobert hatte und ich ihn nicht mehr missen wollte, konnte ich mir ein Leben ohne meinen besten Freund auch nicht vorstellen. Ich wusste, dass wir zum Dorf zurückkehren sollten, und doch konnte ich die Ruhe und Stille, die mir der Tempel schenkte, nicht einfach so verlassen.

»Wieso nennst du mich noch immer Sono, obwohl inzwischen klar ist, dass das nicht mein richtiger Name ist?«, brach ich das Schweigen.

»Musst du wirklich fragen?« Ein tonloses Lachen kam über seine Lippen. »Weil du noch immer meine beste Freundin bist, die mit mir im Lager der Wasserdruiden aufgewachsen ist. Du hast dich trotz allem nicht verändert.« In seinen Augen blitzte ein übermütiges Funkeln auf. »Vielleicht ändert sich das, wenn du erst einmal kugelrund bist.«

Ich fiel in sein Lachen ein, genoss die Leichtigkeit, die uns verband, das tiefe Verständnis, das ich mit niemandem sonst teilte.

Gael seufzte leise. »Sono?«

»Ja?«

»Möchtest du mir als Beraterin zur Seite stehen?«

Ich hielt den Atem an. Auch wenn er es bereits angedeutet hatte, hatte ich damit gerechnet, noch zwei, drei Jahre Zeit zu haben, bis er mich fragte. Ich sah mich nicht als Beraterin, in der Regel traf ich keine guten Entscheidungen, sondern solche, die wider jede Vernunft waren. »Ich als Beraterin?« Ich verstand ja, dass er Thamrath offiziell als seinen Berater ernennen wollte. In der Vergangenheit war sein Rat von unschätzbarem Wert gewesen. Doch dass Gael darüber nachdachte, auch mich bereits jetzt in den Kreis aufzunehmen, hatten sich meine wildesten Träume nicht ausgemalt. Ob er wusste, wie oft ich an meinem eigenen Verstand zweifelte, besonders seit ich schwanger war?

Er nickte lächelnd. »Wen denn sonst? Niemandem vertraue ich mehr als dir.«

Vor Nervosität lachte ich auf und wich seinem Blick aus. Ich fühlte mich nicht in der Lage, für mich selbst gute Entscheidungen zu treffen. Allein der Gedanke, dass er mich um Rat fragen könnte … Ich schüttelte den Kopf. »Seit ich das Lager der Wasserdruiden verliess, habe ich die wahrscheinlich dümmsten Ideen für mein zukünftiges Leben getroffen. Ich rate dir dringend von deiner hirnrissigen Idee ab.« Noch einmal lachte ich in mich hinein.

Gael schwieg so lange, dass ich keine Antwort mehr erwartete. Der Bach plätscherte hinter uns, hin und wieder heulte der Wind am Ende des zweiten Zugangs zur Schlucht.

»Ja.«

Ich erstarrte. »Ja?«

Gael lachte befreit auf. Zum ersten Mal seit Tagen hatte ich das Gefühl, dass ich meinen Freund wieder bei mir hatte und nicht einen Schatten seines Selbst. »Ja. Ich möchte dich als meine Beraterin.«

Nur langsam wagte ich es, ihn anzusehen. Seine Offenheit war ich gewohnt, doch die Schwere seiner Entscheidungen noch nicht. Das war wohl etwas, das ich selbst noch lernen musste, wenn ich ihn unterstützen wollte – und ich wollte an der Seite meines besten Freundes stehen, wenn er mich brauchte.

Ich drückte seinen Arm fester und holte tief Luft. »Dann lass uns gehen. Thamrath wartet schon ungeduldig.« Ich dachte an den dunklen Blick des Druiden zurück, als er mich geschickt hatte, nach Gael zu suchen. Die Augenbrauen hatten keine Verzögerung geduldet, jetzt sassen wir schon eine Weile plaudernd nebeneinander.

Es tat gut. Nicht nur er brauchte eine Pause. Als ich mich auf die Suche nach ihm gemacht hatte, war mir klar gewesen, dass er im Tempel sein musste, der den Glauben an den Gehörnten und die Göttin vereinte. Die Erdendruiden mieden ihn meist, sodass er sich als unser Rückzugsort eignete. Ein Teil von mir verstand sie. Seit Generationen nutzten sie den Tempel im Wald neben dem Dorf, in dem ebenfalls eine Quelle entsprang und dann als gurgelnder Bach zwischen den Bäumen ins Tal floss. Solche Traditionen änderten sich nie über Nacht – es sei denn, man wurde dazu gezwungen.

Vielleicht war es auch der Nähe zu den Naturgeistern und dem Gehörnten zu verdanken, dass Gael und ich uns hier wohlfühlten. Als wir noch im Stamm der Wasserdruiden gelebt hatten, hatten wir zum männlichen Gegenstück der Göttin gebetet: dem Gehörnten. Doch nun waren nicht nur unsere heiligen Plätze, sondern das ganze Dorf zerstört.

Der staunende Teil von mir wusste jedoch nicht, wieso die Erdendruiden einen Bogen um diesen Ort machten. Das Singen des Baches spendete Ruhe, das Züngeln der magischen Flammen in den Rinnen an den Wänden sorgte für warmes Licht. Ich liebte die Alten Tempel, die alle Elemente in sich vereinten.

Gänsehaut überzog meine Unterarme mit einem Kribbeln, ein Schütteln ging durch meinen Körper. Gael warf mir einen fragenden Blick zu, lachte dann jedoch und stand auf. Er streckte mir die Hand entgegen, um mir auf die Beine zu helfen.

Schweigend traten wir aus dem Tempel und sogen die warme Herbstluft tief in die Lungen. Die Sonne zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht, während ein trockener Windstoss über meine Wangen streichelte. Es roch nach Bergwald und warmen Tagen.

Unter uns breitete sich das Dorf aus, das wir bis vor wenigen Wochen nicht gekannt hatten und nun unsere Heimat nannten. In nicht allzu ferner Zukunft würde das Mädchen in meinem Bauch das Licht der Welt erblicken und das erste Kind aus dem Zusammenschluss der beiden Stämme sein. Die Holzhütten lagen etwas verstreut um einen lang gezogenen Platz, der Feuerstellen und viele Baumstämme bereithielt, um die Feste ausgiebig bis in den frühen Morgen feiern zu können. Nach Osten und Süden umgab dichter Wald das Dorf, gegen Norden begrenzten die Berge die Siedlung. Im Westen fiel der Berg in die Schlucht ab, die auch vom Alten Tempel aus erreichbar war.

Das bunte Treiben wärmte meinen Bauch. Kinder spielten, Frauen kochten und tratschten miteinander. Ein Druide kam mit seiner Jagdbeute, einem Reh, zurück. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich an das Festmahl dachte.

Gaels Lachen riss mich aus meinen Gedanken, doch ohne auf meinen fragenden Blick einzugehen, machte er sich an den Abstieg. Ich beeilte mich, ihm hinterherzukommen.

Vor Gaels Hütte wartete Thamrath mit verschränkten Armen und düsterem Blick. Die Malereien an seinem Körper liessen ihn noch imposanter erscheinen, selbst ein Bär würde vor ihm davonrennen, wenn er ihn so herrisch anstieren würde. Am liebsten hätte ich mich weggeduckt und wäre im Wald verschwunden. Doch nachdem mein bester Freund mich gefragt hatte, ihm beizustehen, konnte ich mich schlecht in Luft auflösen.

Gael nickte Thamrath zu und trat an ihm vorbei in die Hütte, ohne ein Wort zu sagen.

Sein Lehrer packte ihn an der Schulter und hielt ihn zurück. »Wo warst du?« Die tiefe Stimme rollte durch meinen Bauch und löste in mir den Respekt aus, den er als Lehrer und Berater unseres Stammes verdient hatte.

Gael lächelte. »Mach dir keine Sorgen, ich brauchte nur eine Pause.« Auch wenn er offen wirkte, erkannte ich die Müdigkeit in seinen Zügen. Augenblicklich mischte sich eine weitere Sorge zu dem Durcheinander in meinem Bauch.

Thamraths Augen verengten sich kaum merklich, das Dröhnen in seiner Stimme wurde stärker, obwohl er nicht lauter sprach. »Nimue wartet bereits. Sie ist ein ehrwürdiges Mitglied der Erdendruiden, und wir tun gut daran, sie nicht zu erzürnen.«

Ich glaubte nicht, dass sich Nimue deswegen aus der Ruhe bringen lassen würde. Sie war eine geduldige, quirlige Druidin, die ihrem schmalen Körper und dem Alter zum Trotz einige Überraschungen auf Lager hielt.

Thamrath folgte dem jungen Anführer in dessen grosszügige Hütte und zog die Tür hinter sich zu, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.

Hastig drückte ich mich zwischen ihm und dem Türrahmen vorbei und zwinkerte ihm zu. »Ich gehöre jetzt auch dazu.« Meine eigene Unsicherheit überspielte ich.

Wie bereits angekündigt, wartete Nimue im Inneren. Die Druidin begrüsste mich mit einem warmen Lächeln, das die Sonne in die Stube brachte. Ihre Haare standen zu allen Seiten hin ab, die Haut wirkte ledrig und dünn und ihre Knochen traten an allen Gelenken hervor, als hätte sie zwei Wochen lang nichts mehr gegessen. Als sie Thamraths Brummen vernahm, blitzten die hellen Augen erfreut auf. Sie holte einen Becher und füllte ihn mit dem würzigen Kräutertee, der lauwarm im Krug vor sich hin zog. »Hier, für dich, mein Kind. Schön, dass du da bist.«

Ich nickte ihr dankbar zu und trank den Becher in einem Zug leer. Mein Durst war mir gar nicht aufgefallen. Auch etwas, das sich mit dem Kind unter meinem Herzen geändert hatte. Mein körperliches Befinden änderte sich von Augenblick zu Augenblick, und manchmal erzählte mir niemand davon.

Thamrath zog geräuschvoll einen Stuhl vom Tisch und setzte sich. Seine dunklen Augen musterten einen nach dem anderen, bis sie an Gael hängen blieben. Seine Lippen formten ein Lächeln, das all die Liebe und Achtung mit sich trug, die er für seinen Schützling empfand. Die riesige Hand legte sich auf den hellen Unterarm und drückte ihn. »Es tut mir leid, dass du eine solche Bürde zu tragen hast. Aber ich weiss die Zukunft der Stämme lieber in deinen Händen als in denen eines anderen.«

Ich nickte bestätigend. Auch wenn Gael jung war, konnte ich mir keinen besseren Anführer vorstellen. Selbst seine Zweifel konnten mich nicht von meiner Überzeugung abbringen, eher bewirkten sie, dass ich ihm noch mehr vertraute.

»Also …« Gael verstummte und seufzte ergeben. Er versteckte das Gesicht hinter den Händen und massierte sich die Stirn, ehe er sich gerade hinsetzte. »Was muss ich tun?« Er warf erst Thamrath, dann Nimue einen kurzen Blick zu und lenkte ihn dann auf seine Hände.

Die betagte Druidin kicherte und zog ihre Beine auf den Stuhl, um im Schneidersitz ihren Anführer zu betrachten. »Jungchen, du musst gar nichts tun. Folge deinem Herzen und sieh zu, dass du Freude daran hast, hier zu sein.«

Thamrath warf ihr einen scharfen Blick zu. »Ein paar Gedanken über die nächsten Schritte sind wohl nicht verkehrt.«

Wieder lachte die Alte, die ich schon nach wenigen Tagen ins Herz geschlossen hatte. Ähnlich wie ich schien sie eher Einzelgängerin zu sein, auch wenn sie von allen akzeptiert wurde. Es erinnerte mich so sehr an meine Zeit bei den Wasserdruiden, dass es mich manchmal gar etwas ängstigte.

»Wie soll er denn Entscheidungen treffen, wenn er die Leute nicht kennt?« Mit einer weit ausholenden Armbewegung schloss sie das gesamte Dorf und in ihrem Kopf vermutlich noch viel mehr ein.

Thamraths Blick verdüsterte sich. »Er ist ein Anführer. Wenn er jetzt Schwäche zeigt …«

Ich schluckte und wandte mich zu Gael. Mein Freund wirkte verloren, wie er dasass und das Gespräch über sich ergehen liess, als würde es ihn nichts angehen. Am liebsten hätte ich ihn am Arm gepackt und wäre mit ihm jagen gegangen. Ausnahmsweise hätte ich ihm die grössere Beute überlassen.

»Papperlapapp.« Nimue wischte die Bedenken des Druiden beiseite. »Er wird seinen Weg finden. Nach all den Jahren hat ein würdiges Stammesoberhaupt seinen Platz eingenommen, ganz ohne dass wir es so geplant hatten. Ich vertraue darauf, dass dieses Stammesoberhaupt irgendwann genau weiss, was zu tun ist. Bis dahin« – ihr Lächeln verbreiterte sich zu einem frechen Grinsen – »können wir uns freuen, dass die Fehden zwischen unseren Stämmen verschwunden sind.«

»Ja, weil unser Stamm praktisch verschwunden ist«, brummte Thamrath.

Erstaunt betrachtete ich ihn. Uns allen ging das Ende unseres Stammes nahe, hinterliess tiefe Löcher in unseren Herzen und bescherte uns Albträume. Doch diese Bitterkeit passte nicht zu seinem Ruf als besonnener Mann. Vielleicht lag es auch daran, dass er in unserem Stamm ein Mitglied des Ältestenrats gewesen war und ihm deshalb die Druiden, Lernenden und Kinder besonders am Herzen gelegen waren.

Gael warf den beiden einen scharfen Blick zu. »Ich möchte Berater und Freunde an meiner Seite wissen, die sich nicht tagelang ankeifen. Euren Wortspielchen höre ich inzwischen lange genug zu. Es gibt einige Entscheidungen, die sich nicht länger hinauszögern lassen.« Er sah mich durchdringend an, ehe er lächelte. »Sono wird mir zur Seite stehen und mich beraten.«

Ich erwiderte das Lächeln und freute mich, dass er mir nach all den Erlebnissen noch immer so vertraute und mich in seiner Nähe wissen wollte. »So gut ich kann.«

Thamrath nickte nachdenklich. »Eine gute Wahl. Als Tochter des Herzogs und mit einer einflussreichen Mutter in Talassa geniesst sie Ansehen und Einfluss.« Er rang sich zu einem ehrlich wirkenden Lächeln durch. »Zudem ist sie der heimliche Liebling der Bevölkerung.«

Gael runzelte die Stirn. »Ich habe sie als Freundin gefragt und nicht als Tochter des Herzogs.«

Der imposante Druide musterte ihn einen Moment, dann nickte er lächelnd. Diesmal wirkte es nicht mehr so aufrichtig. »Wie konnte ich das nur vergessen.«

»Zudem würde ich gern Ciarann und Irving dabeihaben«, eröffnete Gael.

Nimue summte, während sich ihre faltige Stirn noch tiefer kräuselte. »Das ist gewagt, Jungchen.« Sie legte den Kopf schief und ihr Blick ging in die Ferne, verlor sich irgendwo zwischen der Wand und den weiten Bergen dahinter.

Ich fragte mich, ob sie mehr sah und wahrnahm als wir. Vielleicht sollte ich Gael danach fragen. Da er die Aura eines Menschen sehen konnte, erkannte er Dinge, die anderen verborgen blieben. So hatte er mir auch das Geschlecht des Kindes verraten, das in meinem Bauch heranwuchs.

»Wieso ist das gewagt?« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Ciarann, der mir die letzten Wochen ohne Zögern beigestanden und stets einen Rat gewusst hatte, als Berater nicht infrage kam.

Nimue lächelte milde, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Irving hat sich in den letzten Tagen nicht allzu viel Respekt verdient, und Ciarann wird erst noch beweisen müssen, dass er würdig ist, unseren Anführer zu beraten. Und du übrigens auch.«

Mir wurde die Kehle eng, als ich an den morgigen Abend dachte. Der Gehörnte und die Göttin würden uns prüfen und entscheiden, ob wir gegen die Gesetze unserer Stämme gehandelt hatten. Bis vor wenigen Tagen hatte ich einem Stamm angehört, der nur dem Gehörnten huldigte, und auch der Ritus selbst bereitete mir Bauchschmerzen.

Nicht nur mir. Die Stimmen unserer Götter hatten ihren Willen deutlicher geäussert, als die beiden Stämme noch getrennt gewesen waren. Sämtliche Priester und Druidinnen, die dem Gehörnten und der Göttin nahegestanden hatten, horchten nach ihren Stimmen, oft vergeblich. Niemand wusste genau, wie wir die Feier gestalten sollten. Einzig Nimue machte sich kaum Gedanken darum.

Ich warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. Trotz ihrer Lebenserfahrung und all den Jahren, die an ihr vorbeigezogen waren, wirkte sie eigenartig losgelöst, als fürchtete sie nichts. Ein wenig beneidete ich sie darum.

Gael atmete hörbar ein. »Erst kümmern wir uns um die Zeremonie heute Abend. Wie läuft sie ab?«

Nachdem der Stamm der Wasserdruiden bis auf Gael, Thamrath und mich komplett ausgelöscht worden war und die Erdendruiden ebenfalls schmerzliche Verluste in ihren Reihen zu verzeichnen hatten, würden wir die Toten heute symbolisch verabschieden. Sie wurden dem Gehörnten und der Göttin überlassen.

Thamrath holte tief Luft. »Nimue, Maira und ich werden die Zeremonie leiten. Du musst nichts tun, ausser dabei zu sein.« Ein kaum erkennbares Lächeln huschte über das Gesicht des Druiden.

Erleichtert stiess Gael die Luft aus. »Ich käme nicht auf die Idee, meine Freunde und Familie nicht zu verabschieden.« Die feinen Falten auf seiner Stirn vertieften sich. »Dann bleiben noch die Besuche in Talassa und bei den anderen Druidenstämmen. Ich denke, je früher wir uns auf den Weg machen, desto besser. Sie werden merken, wie wichtig uns ein freundschaftliches Verhältnis ist, wenn wir schon bald bei ihnen auftauchen. Wir sollten in den nächsten Tagen jemanden schicken, um zu den Druiden des Feuerclans zu reisen.«

Zustimmend nickte Thamrath, und Nimue klatschte in die Hände. »Endlich wieder einmal vernünftige Worte in diesem Raum.«

Ich runzelte die Stirn und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Haben sich hier denn nur Verrückte besprochen?«

Sie kicherte und erhob sich. »Die letzten Jahre war es leider so.« Ihr Blick wanderte zu unserem Anführer, der sie mit warmem Blick musterte. »Für die morgige Zeremonie ist ebenfalls alles vorbereitet. Lass dich nicht stressen, Jungchen.« Sie hob die Hand zum Gruss und verschwand ohne ein weiteres Wort aus der Hütte.

Sprachlos starrte ich auf die geschlossene Tür und drehte mich zu Gael um. Er lachte verhalten. »Sie ist einfach abgehauen.« Ich konnte es nicht fassen.

Er prustete los. »Sie ist so. Ein bisschen wirr im Kopf, aber unglaublich herzlich und aufgeschlossen. Obwohl ich sie erst ein paar Tage kenne, ist sie mir schon jetzt eine grosse Stütze.«

Ich vertraute Gaels Urteil mehr als jedem anderen. Durch die Aura konnte er die Absichten eines Menschen erahnen und erkennen, wer ihm wohlgesonnen war. Wenn er jemandem Glauben schenkte, dann hatte es Hand und Fuss. Dass er Nimue mochte, freute mich, denn ich liebte die Druidin. Sie fürchtete sich nicht und folgte ihrem Herzen, ohne an die Konsequenzen zu denken.

Ich lachte in mich hinein, doch es verging mir, als ich Gaels ernsten Blick wahrnahm. Mit einem Räuspern wandte er sich an seinen Mentor und übertrug ihm einige Aufgaben, bevor er ihn entliess. Besonders die heutige Zeremonie und die Prüfungen morgen nahmen ihn in Beschlag. Stumm wartete ich, bis Thamrath die Tür hinter sich geschlossen hatte und ich mit Gael allein war.

Mein Freund fing meinen Blick ein. Er sammelte sich einen Moment, ehe er tief einatmete und mit seinen Händen meine umschloss. »Es tut mir leid, Sono«, flüsterte er. Von seinen Schultern schien ein halber Berg voller Lasten und Sorgen abzufallen. »Wir werden drei Leute ausschicken, um die Feuerdruiden zu besuchen.«

Wenn ich an die Wärme dieser Tage dachte, schien mir der Winter noch weit entfernt. Seit wir hier waren, war ein Tag freundlicher als der vorhergehende. Langsam machte ich mir Sorgen, dass eines Tages der Frühling vor der Tür stand und ich keine einzige Schneeflocke gesehen hatte. »Was tut dir denn leid?«

»Es kommen nicht viele infrage, die diese Aufgabe erfüllen könnten.« Gael seufzte schwer.

Für einen Wimpernschlag stellte ich mir vor, wie ich über die Pässe reiste, wie der Schnee unsere Spuren bedeckte und wir im Lager der Feuerdruiden ankamen.

»Ich habe an Ciarann gedacht. Keiner kennt die Riten und Geschichten der anderen Stämme wie er. Zusammen mit Thamrath und einer Priesterin aus dem Stamm der Erdendruiden wird er den Weg für ein Bündnis ebnen, da bin ich mir sicher.«

Ich schluckte leer. Ciarann würde ohne mich losziehen, den ganzen Winter über weg sein. Alles Blut wich aus meinen Händen und liess kalte Finger zurück, das Herz stolperte, fing sich jedoch und hämmerte dann unbarmherzig gegen meinen Brustkorb. Gezwungen nickte ich. »Natürlich.« Ich klang heiser und räusperte mich. »Für diese Aufgabe ist er bestens geeignet.« Das war er tatsächlich. Doch ich wollte mir nicht vorstellen, schon wieder von ihm getrennt zu sein. Seit wir uns kannten, rissen uns das Leben und unsere Schicksale immer wieder auseinander. Und nun sollte er zum Clan der Feuerdruiden reisen und Verhandlungen in Gaels Namen führen.

Gael lächelte schief. »Mir kannst du nichts vorspielen.«

Verwirrt blinzelte ich, dann lachte ich freudlos auf. Manchmal wünschte ich mir, dass ich für einen Tag so sehen konnte wie er, dass ich Menschen und ihre Gesinnung so gut einschätzen konnte. Manchmal wünschte ich mir sogar, dass ich meine eigenen Kräfte nicht verloren hätte. Aber es war besser so. Ich atmete tief durch. »Natürlich hätte ich ihn lieber bei mir. Doch wir wissen beide, dass es keinen Besseren für diese Aufgabe gibt. Es ist ja nur für eine kurze Zeit.« Nur für einen Winter. Mein Magen drehte sich einmal um sich selbst, als die Worte über meine Lippen kamen. Mir war nicht wohl dabei, Ciarann ziehen zu lassen.

Gael nickte. »Ich möchte ihn dir nicht entreissen, aber er hat Lord Finron überlebt, also werden Feuerdruiden kein Problem sein.« Er zwinkerte mir zu, als sollte es nicht nur mir, sondern auch ihm Mut machen. »Und du wirst an meiner Seite bleiben, damit ich auf dich aufpassen kann.«

Mein Herz machte einen kleinen Satz. Er auf mich aufpassen? »Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen.« Ich zwinkerte ihm zu. Wir wussten beide, dass wir einander blind vertrauen konnten. Gael konnte sich ebenso gut selbst verteidigen wie ich mich. Doch wenn er auf mich aufpassen wollte, liess ich ihm die Freude.

 

Bei den Sternen

 

Meine Füsse flogen nur so dahin, als die Sonne den Himmel in ein Flammenmeer verwandelte. Sie schrie ihr Versprechen, morgen wiederzukommen, regelrecht in den Abend hinein. Ich verschwendete keine Zeit für das Naturspektakel, sondern huschte in unsere Hütte und lief Ciarann in die Arme. Mein Herz machte einen freudigen Satz, als das Glück durch mich hindurchströmte und mich mitnahm auf eine Reise durch all die Freude, die Liebe und das Vertrauen, das er in mir auslöste.

Augenblicklich erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. Das markante Kinn zeigte den Schatten des wachsenden Bartes, die Haare hatte er eben erst gestutzt. Ich drückte mich an ihn und sog den vertrauten Geruch nach ihm, Bergwald und Herbst ein.

Ciarann erwiderte die Umarmung, küsste mich vom Scheitel bis zum Ohr und von dort am Kiefer entlang bis zu meinen Lippen. Ein wohliges Stöhnen entfuhr meiner Kehle, ich schlang meine Arme noch enger um ihn. Er löste sich sanft von mir, doch das Strahlen blieb seinen dunklen Augen erhalten. Wie verzaubert starrte ich den Mann vor mir an, während mein Herz von einem Schlag zum nächsten stolperte und nicht glauben konnte, dass er sich tatsächlich in mich verliebt hatte.

»Wie geht es dir?«, fragte ich in die Stille hinein.

Heute war der Tag unserer Zeremonie. Sie sollte Klarheit über unseren Status innerhalb der Gemeinschaft bringen. Ciarann, sein Zwillingsbruder Irving und ich mussten uns der Prüfung durch die Göttin und den Gehörnten stellen. Wir alle hatten Taten begangen, die in ihren Augen kein Wohlwollen fanden. Nun sollten sie entscheiden, ob wir weiter auf ihren Wegen wandeln konnten oder uns neue suchen mussten.

Ciarann war ein ausgebildeter Druide, der der Göttin geopfert und nicht angenommen worden war. Zudem hatte er die Initiation mit mir vollzogen und dabei Regeln ausser Acht gelassen, was dem Gehörnten einen tobenden Tag entlockt haben dürfte. Kein Gefolgsmann der Göttin sollte eine seiner Anhängerinnen in den Kreis der Priester und Priesterinnen einführen. Und doch hatten wir genau das getan.

Er holte tief Luft und schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Es geht. Ich bin aufgeregt. Und du?«

Allein bei dem Gedanken an die Zeremonie zitterte ich und versuchte deshalb, ihn einfach wegzusperren, doch das war leichter gesagt als getan. »Ich auch.«

Ciarann drückte meine Hand, um mich zu beruhigen. »Komm, lass uns gehen. Die Vorbereitungen starten bald.« Noch einmal küsste er mich leicht und voller Zuversicht auf die Lippen.

Ich nickte und wagte ein Lächeln, doch wohl war mir dabei nicht. Vermutlich erahnte Ciarann seiner eigenen Aufregung zum Trotz das Chaos in mir. Immerhin stand mir niemand so nahe wie er.

»Egal, was passiert, Syvaren, ich bleibe immer bei dir. Versprochen.« Wie selbstverständlich legte Ciarann seine Hand auf meinen Unterleib. Die Stelle wurde warm, glühte auf wie die Sonne an den ersten warmen Frühlingstagen, sodass ich mir einbildete, unsere werdende Tochter freute sich über die Liebkosung.

Wieder eroberte ein schiefes Lächeln mein Gesicht, als ich an seiner Seite in die fortgeschrittene Dämmerung trat und den Duft nach flackernden Feuern und schmorendem Braten wahrnahm. Das Wasser lief mir im Mund zusammen, obwohl ich wusste, dass sich der Magen beim ersten Bissen drehen würde. Noch war niemandem mein merkwürdiges Essverhalten aufgefallen, doch ich fürchtete, es war nur eine Frage der Zeit, bis Nimue oder Thamrath Wind davon bekamen.

Hand in Hand spazierten wir zu den Hütten, welche für die Vorbereitungen bei Ritualen vorgesehen waren. Wir verabschiedeten uns mit einem langen Blick, der mir ein aufgeregtes Kribbeln in die Brust zauberte. Dennoch hielt mich die Unsicherheit in ihrem Bann gefangen, als wäre ich ein Rehkitz, das einem Jäger ins Auge blickte. Ich war dem Gehörnten und der Göttin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Ich verdrängte dieses Wissen, das mir die Kehle zuschnürte, und öffnete mit wackeligen Knien die Tür. Als ich eintrat, umfingen mich Rauch und Kräuterduft. Priesterinnen summten leise und berührten mit ihren Tönen mein Herz, das sich innerhalb weniger Augenblicke beruhigte. Ich tat einen tiefen Atemzug. Die Anspannung fiel von mir ab. Wie auch immer die Entscheidung ausfallen würde, sie würde gut sein.

Eine junge Frau trat zu mir und lenkte mich an der Schulter zu einem Bett. Folgsam setzte ich mich, während sie sich abwandte und zum Tisch ging, um mir eine Schale mit einem stark riechenden Gebräu zu reichen.

Mit grossen Schlucken trank ich die Tinktur aus verschiedensten Kräutern, die meinen Geist lösen und mein Herz öffnen sollten. Sie schmeckte bitter, doch ich kannte die Rezeptur von meinem Unterricht im Stamm der Wasserdruiden, obwohl wir uns nur selten den Zeremonien gewidmet hatten. Bei den Wasserdruiden beschäftigten sich die Männer intensiver mit den Ritualen als die Frauen.

Die junge Priesterin trat mit winzigen Tiegeln zu mir. Die scharfen Gerüche nach Kräuterbalsam und Alkohol kitzelten mich in der Nase. Ich nieste. Sie lächelte, als sie den Finger in die Paste tunkte und mir das Zeichen für Erde auf die Stirn malte. Konzentriert tröpfelte sie eine Tinktur auf meine Lippen, ohne dabei ihr Summen zu unterbrechen. Der leichte Druck veranlasste mich, den Mund zu öffnen, sodass sie zwei getrocknete Blätter einer seltenen Pflanze auf meine Zunge legen konnte.

Scharf zog ich die Luft ein: Nebelkraut. Die Heilpflanze, die einzig von den Erdendruiden gesammelt und genutzt wurde, hatte in der Vergangenheit grosses Leid verursacht. Lord Finron, der Gedankenleser, hatte damit dem Leben seiner Geliebten ein Ende bereitet, damit sie nicht weiter in den verhassten Burgmauern leben musste. Ihren Tod hatte er offenbar nicht verkraftet, sodass er nicht nur sämtliche Druiden hatte auslöschen wollen, sondern auch eine Intrige gegen meinen Vater, den Herzog von Talassa, gesponnen hatte. Seinetwegen war der Stamm der Wasserdruiden praktisch ausgelöscht, der der Erdendruiden hatte empfindliche Verluste in seinen Reihen erlitten.

Ich wollte das Kraut ausspucken, es loswerden, um mein Kind und mich zu schützen, doch ich blieb wie gelähmt sitzen. Ein Kribbeln überzog meine Haut wie Wellen, die gegen das Ufer eines kleinen Baches schlugen, unvorhersehbar und sanft. Selbst in meinen Fingerspitzen brannte ein kleines Feuer. Ich sah mich, wie ich im bläulichen Dunst des Rauches sass, die Hände in die Matratze gekrallt und mit einem Blick, der alle guten Geister bis über die Landesgrenzen jagte.

Neben mir ertönte ein Lachen, so hell wie eine winzige Glocke und doch viel leiser. Ich wandte meinen Kopf, sah aber nichts. Erst ein Lufthauch an meiner Wange liess mich wieder herumfahren. Ich liess meinen Körper zurück, das Summen der Priesterinnen verstummte unter mir, während ich höher und höher flog. Es war herrlich, so berauschend. Die Sterne hiessen mich willkommen und zeigten auf die hell lodernden Feuer unter uns. Sie tanzten, freuten sich mit mir über die Leichtigkeit meines Geistes, der meinen Körper so einfach verlassen konnte. Selbst von hier erkannte ich die Hütte so deutlich, als stünde ich direkt vor ihr.

Mein Lächeln wich einem sehnsuchtsvollen Blick. Dort war meine und Ciaranns Tochter und wuchs in meinem Körper heran, der den Priesterinnen schutzlos ausgeliefert war. Sie brauchte mich, egal, wie frei und sorglos ich mich hier fühlte.

Ein einziger Gedanke brachte mich zurück. Ein letztes Mal betrachtete ich meinen Körper von aussen, die helle Haut, das dunkle Haar, dessen Locken sich teilweise aus dem Pferdeschwanz gelöst hatten. Trotz des ausdruckslosen Gesichtes leuchtete ich von innen, eine Kraft, von der ich bisher nicht einmal geahnt hatte. Ein goldbraunes, kaum sichtbares Schimmern hüllte mich ein. War es das, was Ciarann in mir sah? Und Gael?

Ich streckte die Hand aus. Augenblicklich wurde ich hineingerissen, fand mich in meinem Körper bei der Priesterin wieder, die mich mit demselben freundlichen Lächeln musterte, das sie trug, seit sie mich in Empfang genommen hatte.

Die Kräuter und der Trank wirkten bereits. Ich fühlte mich fast so frei wie vorhin, als ich den Sternen einen Besuch abgestattet hatte. Zur Priesterin gesellten sich zwei Lehrlinge, die mich mit geschickten Händen in ein einfaches, aber warmes Leinengewand hüllten, mir einen Kranz aus Hagebutten, Zweigen und Herbstblüten auf den Kopf legten und mir auf die Beine halfen.

Mit noch wackeligeren Knien als beim Eintreten verliess ich die Hütte. Druiden, Priester und Lehrlinge machten sich in Gruppen auf den Weg zum Alten Tempel. Mir grauste davor, die Anhöhe in meinem Zustand in Angriff zu nehmen. Ich rümpfte die Nase und entliess ein leises Seufzen, als mich die Priesterin stützte und den Weg entlangführte.

Die Kälte drang nicht bis zu meinen Füssen, dafür war ich zu benebelt. Der Trank wirkte wie derjenige für Opferzeremonien, wenn den Gottheiten ein Tier geopfert wurde. Er betäubte Schmerz und Empfindungen, verzerrte die Wahrnehmung und vertrieb Angst. Bei mir blieb allerdings ein Teil der Wirkung aus. Ich hatte Angst, und zwar gewaltig. Heute Nacht würde sich entscheiden, ob ich noch von einem Leben als Druidin träumen konnte oder ob ich in den Augen des Gehörnten und der Göttin nutzlos war.

Schneller als mir lieb war, erreichten wir den Eingang zur Höhle, die zum Alten Tempel führte. Ich kannte jeden Schritt auswendig, wusste anhand der Körner unter meinen nackten Fusssohlen, wo wir waren, so oft hatte ich den ruhigen Höhlenraum aufgesucht. Ein kühler Wind strich mir über die Wangen und beruhigte mein erhitztes Gemüt. Nur kurz schloss ich die Augen, noch immer gefangen in meinen eigenen Gedanken und Empfindungen. Mein Puls raste, obwohl mich die Prozedur hätte beruhigen sollen.

Heute würden der Gehörnte und die Göttin entscheiden, ob ich ihrer würdig war. Niemand ahnte auch nur, wie sehr ich mir ein Dasein als Druidin wünschte, wie gern ich dieses Wissen in mir aufsaugen würde. Selbst Ciarann bekundete hin und wieder Zweifel, wenn es um meine erträumte Zukunft ging. Er war der Meinung, auch ohne den Titel eines Druiden konnte man sich das Wissen und die Anerkennung erarbeiten. Doch ich wollte es. Ich wollte es so sehr.

Als ich es endlich wagte, mich umzusehen, blieb die Priesterin bereits stehen. Wir hatten den Höhlenraum erreicht, der wie durch Magie erhellt wurde. Leise Trommelschläge schlichen sich in meine Brust, verbanden sich mit meinem Herzschlag und verlangsamten ihn. Als ich das aufgeregte Murmeln und die erwartungsvollen Blicke wahrnahm, das Leuchten in den Augen der Menschen im Tempel, presste ich die Fingernägel in die Handflächen. Der Schmerz blieb weitgehend aus, nur ein dumpfer Druck blieb.

Die Trommeln dröhnten immer lauter durch die Luft und versetzten sie in Schwingungen, die meine Haut aufnahm und in ihrem Takt kribbelte. Mein Magen tanzte mit. Am liebsten hätte ich mich umgedreht, wäre weggerannt und hätte mich irgendwo in den Tiefen der Wälder versteckt. Für einen Augenblick wirkte diese Vorstellung äusserst verlockend. Ich konnte allein in der Wildnis überleben, mich verteidigen, Essen finden und sauberes Wasser besorgen. Aber ich konnte meine Liebsten nicht verlassen. Also blieb ich.

Neben dem Altar standen Gael, Thamrath, eine unbekannte Druidin und ein älterer Mann, den ich hin und wieder im Gespräch mit Thamrath beobachtet hatte. Sie warteten auf dem Podest auf uns, an dessen Fuss sich der klare, kühle Teich ausbreitete. Bis auf die Flammen in der Kerbe, die in den Felsen gehauen worden war, lag der Tempel im Dunkeln.

An meiner Seite entdeckte ich Ciarann und Irving. Mein Freund wandte den Kopf und schenkte mir ein Lächeln, das genauso weggetreten wirkte, wie ich mich fühlte. Auch für ihn entschied sich heute, welchen Stand er zukünftig in der Gemeinschaft einnehmen konnte.

Gael lächelte mir als Einziger freundlich zu, als mich die Priesterin nach einem sanften Armdrücker allein liess und in der Menge verschwand. Thamraths dunkle Augen fixierten mich, als hätte ich jemanden umgebracht. Seine beeindruckende Grösse und die gemalten Verzierungen an jeder Stelle seines Körpers machten es nicht einfacher, Vertrauen zu fassen.

Er verachtete das, was ich getan hatte. Obwohl er mich zur Priesterin ernannt hatte, hatte mich der Gehörnte nicht geweiht. Auf der Flucht vor den Verfolgern war keine Zeit dafür geblieben. Doch im Tempel der Erdendruiden war mir die Göttin erschienen und hatte mich dazu getrieben, die Weihe mit Ciarann zu vollziehen. Doch die Erdendruiden vollzogen das Ritual anders, weihten ihre Priesterinnen der Göttin. Zudem galt Ciarann als ausgestossener Druide, sodass meine Weihe nun infrage gestellt wurde.

Die Druidin nickte in Ciaranns Richtung, um ihn zu sich zu rufen. Mit jedem Schritt, den er sich dem Altar näherte, hämmerte mein Herz fester gegen die Brust. Immer lauter trommelte es, bis es gar den anschwellenden Sprechgesang der Druiden übertönte. Sie bedeutete ihm, an den Altar zu treten. Mit ruhigen Bewegungen nahm sie seine Hand und drehte sie so, dass die Handfläche frei über dem Altar lag. Kein Stück Stoff, das die weiche Haut schützte, niemand, der zwischen Ciarann und dem Messer stand.

Mit festem Blick fixierte die Druidin Ciarann. »Dein Blut, der Göttin zu Ehren, um dein Ansehen in ihren Augen zu prüfen.« Blitzschnell zog sie die Klinge über die Innenfläche seiner Hand. Augenblicklich zeichnete sich die rote Linie gegen die blasse Haut ab, wurde dicker, bis sich ein Rinnsal aus warmem Blut auf den Altar stürzte. »Dein Blut, das im Angesicht des Gehörnten geprüft wird und deinen Weg bestimmt.«

Vielleicht war ich die Einzige, die Ciaranns Zittern sah, seinen gepressten Atem wahrnahm. Die Wunden an seinen Handgelenken und am Hals waren noch immer sichtbar, wenn sie auch nicht mehr ins Auge sprangen. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen und ihm ins Ohr geflüstert, das alles gut werden würde. Tief in mir drin wusste ich, dass er weder von der Göttin noch von seinem Stamm jemals wirklich verstossen worden war.

Der Singsang der Druiden schwappte auf die versammelten Stämme über. Erst war es Maira, die sich wie in göttlicher Verzückung hin und her wiegte, ein Priester folgte, dessen Namen ich nicht kannte. Ihre Kehlen nahmen die archaische Melodie auf, trugen sie durch den Tempel und brachten den Berg zum Vibrieren. Ich spürte das feine Zittern unter meinen Füssen, das Erwachen der Mächte im festen Gestein.

Ich drückte die Zehen ein bisschen fester gegen den Felsen, spürte die kühle Sanftheit des Gesteins. Es hiess uns willkommen, es mochte, was wir hier taten.

Das Feuer, das in der Rinne an den Wänden entlangflackerte, wurde schwächer, dafür leuchtete die Statue mit unserer schwangeren Ahnin und ihrem Geliebten auf.

Ciaranns Blut versank im Altar, als gäbe es in der Mitte ein Loch, das es aufsog. Erleichterung flutete sein Gesicht, er strahlte. Die dunklen Augen erglühten von innen. Er drehte sich zu uns um und schloss mich in eine innige Umarmung. Dann löste er sich von mir und wiederholte die Geste bei seinem Zwillingsbruder Irving. In seinen Augen glaubte ich trotz des schwachen Lichts ein verräterisches Glitzern zu sehen. Mit beschwingten Bewegungen löste er sich von seinem Bruder und lächelte mir zu, im selben Moment brach der Jubel unter den Priestern, Lehrlingen und Druiden aus.

Sie mochten Ciarann. Jeder mochte ihn.

Mein Puls beschleunigte sich, als ich auf den Altar zutrat. Mir stand dieselbe Prozedur bevor. Mein Lächeln geriet schief, als ich Ciarann ansah. Aufmunternd nickte er mir zu. Er wusste vermutlich ganz genau, was in mir vorging, welche Ängste mich plagten und mich Stück für Stück einnahmen.

Die Strecke war kurz, dennoch kam sie mir unendlich lang vor. Aber wie von Geisterhand geführt, taten meine Füsse einen Schritt nach dem anderen. Mir war übel. Das Herz klopfte so laut, dass ich dachte, es würde nächstens in unzählige Teile zersplittern – oder seinen Dienst aufgeben, weil es überfordert war.

Ich schaffte die erste Stufe, dann die zweite. Mir war, als würde ein feiner Windhauch mein überhitztes Gesicht kühlen, doch meine Haare bewegten sich nicht. Ein leises, viel zu hohes Kichern folgte, etwas, das vermutlich nur mir auffiel. Zu viele warteten gebannt, wie sich meine Zukunft gestalten würde, ob ich Priesterin oder nur ein unbedeutender Teil des Stammes war.

Mit leerem Kopf stand ich schliesslich vor den wichtigsten Leuten unserer vereinten Stämme: Gael, der die Druiden anführte, Thamrath, seinem engsten Vertrauten und Lehrer, und einer Frau und einem Mann, die ich nicht wirklich kannte. Sie alle starrten mich an, als wüsste ich noch, was als Nächstes zu tun war.

Die Druidin hob die Hände. Augenblicklich verstummten die freudigen Gespräche, und die wenigen Augenpaare, die mich noch nicht angesehen hatten, taten es jetzt.

Wenn ich doch nur im Felsen versinken könnte!

Für einen langen Moment schloss ich die Augen und lauschte dem Rauschen meiner Ohren. Ich hatte das Gefühl, als würde mein ganzer Körper glühen, obwohl hin und wieder Gänsehaut meine Arme bedeckte. Ich hörte, wie die Druidin sprach. Kein Wort davon drang in mein Bewusstsein. Vielleicht betete sie zur Göttin, vielleicht auch zum Gehörnten, vielleicht aber erzählte sie auch einfach meine Geschichte. Wahrscheinlich waren es dieselben Worte, die sie zuvor schon gesprochen hatte. Sie verfiel in einen Sprechgesang, Thamrath fiel ein. Das hatte ich bei Ciaranns Zeremonie vorhin nicht bemerkt. Ich war wohl aufgeregter, als ich zugeben wollte.

Gael griff nach meiner Hand und hielt sie über den Altar. In der Mitte des Steines war eine Kuhle gehauen, von der zu beiden Seiten ein schmales Rinnsal zur Kante führte. Sie erinnerte mich an eine Schale. Direkt darüber schwebte meine Hand. Von Ciaranns Blut war kein einziger Tropfen mehr zu sehen.

Die Bewegungen fanden im Einklang mit dem Rhythmus des Sprechgesangs statt. Jeder Schritt, jeder Atemzug – es passte alles. Die Göttin und der Gehörnte führten die Hände ihres Volkes, bewegten die Lippen im kaum hörbaren Sprechgesang. Die Worte hallten zwischen den Wänden wider.

Ein Schaudern erfasste mich, rann mir vom Nacken bis zum Kreuz und vergrub sich dort als zitternder Knoten. Ich wollte die Augen schliessen, wollte mich vor all dem verstecken, was mich erwartete. Ich fürchtete die Entscheidung der Götter. Bei meiner Priesterweihe hatte mir ein verstossener Druide eines fremden Stammes den Segen erteilt. Es war nicht richtig, ich wusste es. Der Gehörnte zürnte mir.

Die Druidin setzte das Messer an meiner Handinnenfläche an. Das Bild weckte erschreckende Erinnerungen an Tage voller Angst und Unsicherheit. Warum verlangten die Götter noch mehr Blut, obwohl schon so viel geflossen war?

Die wachen Augen der Druidin hielten meinen Blick für einen Wimpernschlag fest, dann durchzuckte ein Brennen mein Bewusstsein. Mein warmes Blut floss aus der Wunde und tröpfelte auf den Altar. Schon bald rann es zur Seite hin weg, langsam und träge, um dann endlich einen Weg über die Kante zu finden.

Das durfte nicht sein. Noch hatten weder der Gehörnte noch die Göttin mein Blut angenommen, beide wandten sich von mir ab. Wenn es nicht im Stein versickerte, wurde es abgelehnt – wurde ich abgelehnt. Aber ich war doch eine Priesterin! Kein … Niemand.

Gespannt beobachtete ich, wie ein schwerer Tropfen über das raue Gestein wanderte. Immer näher kam er dem Boden. Den Herzschlag spürte ich im Hals, er erschwerte mir das Atmen. Ich hörte das unendlich langsame Rauschen meines Blutes im Ohr. Der Moment dehnte sich in die Unendlichkeit.

Bitte, betete ich innerlich, bitte, nehmt es an!

Ich schluckte und hielt den Atem an. Nur noch ein Haarbreit. Das Blut berührte den Boden, der Fleck verteilte sich auf dem Stein.

Er versickerte nicht.

Ich starrte weiter. Vielleicht dauerte es einfach etwas länger. Blut war dickflüssig und der Stein nicht sehr porös, bestimmt brauchten die Göttin und der Gehörnte länger, um mir ihre Entscheidung mitzuteilen.

Die Hand der Druidin sank hinab und mit ihr meine. Noch immer richtete ich die Augen auf mein Blut, das vom Altar auf den Boden lief und nicht versickerte. Die Sicht verschwamm und in mir wurde alles kühl und starr. Ich spürte, wie warme Hände nach mir griffen und mich in eine Umarmung zogen, wie der geliebte Duft nach Bergwald und Wiese in meine Nase stieg. Aber es vermochte nicht das aufzuwiegen, was ich verloren hatte.

 

Ciarann führte mich aus dem Tempel hinaus an die frische Luft, die mir trotz der kühlen Brise stickig vorkam. Der Kloss in meinem Hals festigte sich, als ich mich an meinen Geliebten lehnte und in die Nacht starrte.

»Es tut mir leid.« Ciaranns warme, tiefe Stimme sollte mich beruhigen, doch ich war froh, dass ich ihn überhaupt verstand. Die Worte drangen nicht wirklich zu mir. Entweder war ich noch von den Kräutern betäubt oder vom Ergebnis der Zeremonie.

Ich war keine Priesterin, würde nie eine sein. Alles, wofür ich seit meiner Kindheit gekämpft hatte, war zerschlagen. Vernichtet. Ich glaubte zu fallen, immer wieder. Wenn ich dachte, einen Lichtblick zu erhaschen, frass mich das dunkle Loch erneut und schickte mich in seine Tiefe.

Bevor ich mich von Ciarann löste, sog ich seinen Duft nach Bergwald und Wiese und ein bisschen Herbst ein. Auch wenn ich seine Nähe genoss, wollte ich nicht das nutzlose Anhängsel sein, als das ich mich fühlte.

Ich wischte mir mit dem Handballen übers Gesicht und räusperte mich. »Ich freue mich, dass du noch immer Druide bist. Jetzt kannst du weiterhin die Geschichte der Stämme weitergeben, die Rituale und Mythen lehren.« Mir gelang ein offenes und aufrichtiges Lächeln. Es war einfacher, mich auf sein Glück zu konzentrieren als auf meinen Verlust.

Er schnaubte und stemmte die Hände in die Seiten. »Das ist nicht gerecht. Wir waren beide daran beteiligt, das gleiche Urteil müsste für uns beide gesprochen werden.«

Ich holte tief Luft, wollte nicht daran denken, was ich verloren hatte. Vielleicht, wenn ich es verdrängte, bis ich es vergessen hatte, konnte ich so etwas wie ein normales Leben führen. »Lass uns zum Fest gehen. Sie feiern deine und Irvings Rückkehr in ihre Reihen«, lenkte ich von mir ab, nahm seine Hand und zog ihn in Richtung des Dorfes, das von drei riesigen Feuern erhellt wurde.

Er blieb stehen und wartete, bis ich ihn ansah. Sein verständnisvoller Blick war mehr, als ich ertragen konnte, und ich wandte mich ab. Er machte mir nur zu deutlich bewusst, dass ich das, was er hatte, niemals erreichen würde. Ich war ein Niemand.

»Was wird nun aus mir?«, flüsterte ich, ohne dass ich es geplant hatte.

Ciarann trat näher und folgte meinem Blick auf die andere Seite des weiten Tals. Der zunehmende Mond beschien die Berggipfel, deren höchste Spitzen schon im ersten Schneepuder glitzerten. »Wir werden eine Aufgabe für dich finden.« Ein aufmunternder Kuss strich über meine Wange.

Unter dem tiefen Atemzug zitterten meine Schultern. »Und wenn mich der Stamm verstösst?«

Sein Arm drückte mich noch etwas fester, als er sich in Bewegung setzte und mich mit sich zog. »Auch dann werde ich an deiner Seite sein.«

Bisher waren es nur Gedanken gewesen, die wir uns gemacht hatten. Immer wieder hatte mir Ciarann versichert, dass er bei mir bleiben würde, selbst wenn sich die ganze Welt gegen mich stellte. Bisher hatte ich ihm auch geglaubt, denn es hatte sich nicht so angefühlt, als wäre ich keine Priesterin.

Thamrath hatte mich zur Priesterin ernannt, die Weihe … Ich schüttelte den Kopf. Noch war es nicht allzu lange her, und doch fühlte es sich so entfernt an. Würde er sich wirklich für mich und gegen seinen Stamm entscheiden, wenn er dafür sein ganzes bisheriges Leben aufgeben musste? Ich wusste, wie er das Leuchten in den Augen der jungen Lehrlinge liebte, wie gern er sein Wissen weitergab oder sich mit anderen Druiden und Priestern austauschte.

Entschlossen wischte ich meine Bedenken zur Seite und gab mir Mühe, ihm ein Lächeln zu schenken. Entgegen meiner Erwartung führte mich Ciarann nicht zum Lager, sondern über einen schmalen Trampelpfad in den Wald hinein. Schon nach wenigen Schritten wusste ich, wo sein Ziel lag. Wir sprangen über den munter sprudelnden Bach und traten dann aus dem Wald auf die Felsklippe. Unser geheimer Ort. Wir setzten uns ganz zuvorderst hin und liessen die Füsse über dem Abgrund baumeln. Weit unter uns zog sich der Fluss in weitem Bogen durch die noch grüne Talebene. Ein heller Punkt an der gegenüberliegenden Bergflanke zeugte von der Wucht, die den Berg auf das Dorf der Wasserdruiden hatte fallen lassen.

Ich schluckte, als ich an den Druck in meinem Nacken und das Kribbeln in den Fingern zurückdachte. Alles hatte ich mir vorstellen können, nur das nicht. Dieser Kampf gegen den Berg, dessen Groll meinen fast übertrumpft hatte und doch nichts dagegen gewesen war.

Ciarann holte mich mit einer zärtlichen Berührung am Handrücken in die Gegenwart zurück. Sein Blick lag schwer auf meinem Gesicht. Ein Schlucken, dann das Räuspern. Ich ahnte, dass die Neuigkeiten nicht besonders erfreulich sein würden.

»Ich werde mich morgen auf den Weg zu den Feuerdruiden machen.« Seine Stimme klang so sanft, als würde er mit unserem Kind sprechen.

Es zog mir den Boden unter den Füssen weg, mehr noch als die Entscheidung der Göttin und des Gehörnten. Morgen schon. Wenn wir Glück hatten, kehrte er noch vor Wintereinbruch zurück. Doch wahrscheinlich würden die Pässe bald zugeschneit sein und eine Heimreise verunmöglichen.

Ich wandte den Blick ab und betrachtete mein ehemaliges Dorf, das unter Kalksteintrümmern begraben lag. Etwa so fühlte ich mich, erschlagen und begraben unter Felsbrocken, die ich nie wegzutragen vermochte. Meine Welt hatte gerade erst zu einem ruhigeren Puls gefunden, nun beschleunigte er sich schon wieder.

Ich schluckte und zwang mich zu einem Nicken. »Gut.« Es war alles andere als gut. Es war beschissen. Doch ich hatte schon Schlimmeres erlebt, als ein halbes Jahr von Ciarann getrennt zu sein. Er würde zurückkehren. Es war mehr als das, was ich einmal für möglich gehalten hatte.

Mit der Hand strich ich über meinen noch flachen Bauch und hielt über dem Bauchnabel inne. Mich beruhigte der Gedanke, dass unter meiner Hand unsere Tochter zu einem süssen kleinen Mädchen heranwuchs, um im nächsten Frühsommer das Licht der Welt zu erblicken.

Zu meiner Überraschung legte Ciarann seine Hand auf meine und schwieg, bis ich zu ihm aufsah. Das Lachen in seinen Augen mischte sich mit der Sorge um mich und unser Kind. »Ich verspreche dir, dass ich in einem Stück zurückkehren werde.«

»Lebend?« Sogar ein leichtes Grinsen gelang mir.

Er schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Natürlich.«

Endlich etwas erleichtert, lehnte ich mich an seine Schulter und schloss die Augen. Ich zog die Hand unter seiner weg, fuhr mit den Fingern über seinen Arm zur Schulter und drehte ihn zu mir, sodass ich mich in einem innigen Kuss verlieren konnte.