Heute gibt es eine Leseprobe aus Gemmas Fluch, die sich um den Frühling dreht und Teil des diesjährigen Osterspecials des Autoren-Adventskalenders ist. Viel Spass beim Lesen!
»Und das, meine Liebe, sind Schlüsselblumen.« Die alte Frau hob den Blick und musterte Gemma aus grauen, wässrigen Augen. Um ihren Mund zeichneten Falten schmale Schatten, als sie die Lippen zu einem Lächeln verzog. »Weisst du, von all den Mädchen bist du die Einzige, die sich wirklich für die Natur und ihre Gaben interessiert.« Ein tiefes Seufzen hob die Schultern, zeigte eine Spur von Wehmut auf dem ansonsten stets freundlichen Gesicht.
Gemma lachte in sich hinein und warf sich die braunen Locken aus dem Gesicht. »Das glaubt Ihr nur, Aloisia. Viele sind nur noch nicht so weit, dass sie es brauchen. In jungen Jahren ist der Körper mit Gesundheit gesegnet, und erst das Älterwerden lehrt einen, wie wichtig es ist. Und bevor Ihr fragt: Schlüsselblumen helfen gegen Husten«, fügte sie an, als sie sah, wie ihre Lehrerin Luft holte, um zu einer Frage anzusetzen.
Lächelnd begleitete Gemma ihre Lehrerin zu ihrem Haus, das am Waldrand stand und mit einem Garten geschmückt war, der all ihre Träume in den Schatten stellte. Nun jedoch ruhte er. Einzig ein paar frühe Frühlingsblüher reckten ihre Knospen gen Himmel. An den Bäumen zeigten sich erst vereinzelte Sprossen.
Gemma liess den Blick über die Anhöhe schweifen, die ihr Heimatdorf Arth von Lowerts trennte. Unterbrochen von grossen Blöcken, zierten Wälder die durch Felsbänder charakterisierten Hänge der umliegenden Berge. Tannen punkteten das Grau und Braun mit dunkelgrünen Flecken. Ihre liebste Jahreszeit war angebrochen, die kurzen Tage, in denen sich die Kraft der Natur in so vielen kleinen Dingen manifestierte: junge Sprossen, leuchtende Blüten, neues Leben.
Sie wandte sich ihrer Lehrmeisterin zu. »Ruht Euch etwas aus, während ich Schlüsselblumen sammle«, verkündete sie und drückte Aloisia auf die Bank. Die Frühlingssonne wärmte die dunkle Holzwand dahinter, sodass sie nicht fürchten musste, dass sie sich erkältete.
Gemma liebte den Frühling, bevor er richtig erwachte. Es gab unendlich viele kleine Wunder, die die meisten Augen übersahen. Wenn die Schlüsselblumen die noch gelbbraunen Wiesen mit leuchtenden Punkten versahen, hüpfte ihr Herz vor Freude. Sie liebte es, den Kätzchen der Haselnuss beim Tanz mit dem Wind zuzusehen, oder die ersten Leberblümchen am Waldrand zu entdecken.
Und sie mochte es, das Castro Lowerts aus der Ferne zu betrachten und sich vorzustellen, wie das Leben dort wohl sein mochte.
Am Wiesenrand hielt sie inne, verschnaufte. Das Castro lag im Schatten der mächtigen Rigi, des Bergmassivs, das beide Dörfer bewachte und vor der Wut der Stürme aus dem Süden bewahrte. Ein feiner Eisfilm überzog den südlichen Teil des Sees. Selbst aus der Ferne konnte sie das erkennen.
Einmal hatte Gemma ihre Eltern nach den Herren des Castros gefragt, doch ihr Vater hatte das Kinn gereckt und ihr mit strengem Blick mitgeteilt, dass sie sich als Mädchen nicht um diese Angelegenheiten zu kümmern brauchte. Seither blieb es ihr Traum, mehr davon zu erfahren. Sie wusste nicht, wen sie noch fragen sollte, denn Aloisia interessierten diese Geschichten nicht und alle anderen sahen in ihr nur ein Mädchen, das verheiratet werden sollte.
Ein leichtes, kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hatte beschlossen, es ihren Eltern möglichst schwer zu machen, eine vorteilhafte Heirat zu arrangieren, obwohl ein Bursche nach dem anderen Interesse bekundete. Immer fand sie einen Grund, dem Bündnis nicht zuzustimmen – auch etwas, das ihren Vater regelmässig aus der Fassung brachte. Zweimal allerdings hatte das nicht gereicht, weshalb sie sich in Hosen gezeigt und den Männern die Lust auf sie verdorben hatte.
»Hübsch, aber stur«, hatte ihr Vater gemurmelt und war fluchend verschwunden. Seither ignorierte er sie, wann er nur konnte.
Eigentlich war ihr das recht, dennoch entkam ihr ein tiefes Seufzen. Früher hatte sie ein offenes Verhältnis zu ihrem Vater gepflegt. Gemma hatte die Arbeit im Stall geliebt, war mit den Kälbern umhergesprungen wie keiner ihrer Brüder. Doch irgendwann hatte er sie von der Weide ins Haus gejagt, um das Sticken zu erlernen. Und das Häkeln. Sie hatte ihm gar Socken gestrickt, dennoch hatte er sie nicht wieder nach draussen mitgenommen.
Wieder glitt ihr Blick zu der Burg, die auf der kleinen Insel im See errichtet worden war. Ob sie als Burgfräulein ebenso stricken und nähen müsste wie als Bauerntochter? Einen Moment gab sie sich ihren Tagträumen hin. Nein, im Castro hätte sie jemanden, der für sie stickte.
Eine Bewegung auf dem See erhaschte Gemmas Aufmerksamkeit, und sie verengte die Augen, um die Schatten der Rigi besser durchdringen zu können. Etwas bewegte sich auf dem See vorwärts, etwas Grosses. Ein Boot? Es kämpfte sich durch die eisige Oberfläche, die sich trotz des nahenden Frühlings gehalten hatte. Dick konnte sie nicht mehr sein, dennoch musste es Kraft und Geschick bedeuten, wenn sich jemand einen Weg hindurch bahnte. Sie wusste nur vom geschwätzigen Odilo, der dazu fähig war. Der Bauer lebte in Lowerts und besass ein Boot, mit dem er Leute gegen Entgelt auf den See hinausfuhr. Vielleicht war er es, der nun zur kleinen Insel paddelte und einen Gast hinüberbrachte. Die Herren, denen die Insel und die Burg darauf gehörte, konnte man nicht wirklich als Gäste bezeichnen.
Manchmal nahm ihr Onkel Adelbert sie mit auf den See, um einige Fische zu fangen. Sie liebte die Ruhe, doch das Schaukeln des Bootes brachte ihr regelmässig einen mulmigen Magen ein. Allzu sehr mochte sie es nicht.
Gemma verzog den Mund, als sie an ihre Erfahrungen dachte, und wandte sich schweren Herzens ab. Sie war eine einfache Bauerntochter, die froh sein musste, wenn sie nicht irgendeinem Bauern versprochen wurde, sondern einem angesehenen Mann.
Sie schürzte die Lippen. »Am besten gar keinem«, murmelte sie, bevor sie um die Ecke in Aloisias Sichtfeld trat.
Die ältere Frau schnarchte, und unwillkürlich entkam Gemma ein glockenhelles Lachen, das einen Vogel am nahe gelegenen Waldrand aus dem Gebüsch jagte.
Aloisia zuckte zusammen und erwachte. Mit breitem Lächeln und einem gut gefüllten Korb stand Gemma vor ihr. Von dieser Frau wollte sie nicht nur erfahren, wie man mit Tee, Salben und Essenzen Linderung bei Krankheiten brachte, sie wünschte sich auch Hilfe, um nicht verheiratet zu werden. Aloisia war ihr Vorbild, denn sie war niemals einem Mann unterstellt gewesen, nachdem ihr Vater das Zeitliche gesegnet hatte.
Gemma hielt ihrer Lehrmeisterin die Tür auf und folgte ihr in die dunkle, wohlbekannte Küche. Dann holte sie einen Eimer Wasser aus der Quelle neben dem Haus, damit sie die Blumen waschen und mit Essig und Branntwein Tinkturen herstellen konnten.
Aloisia tauchte jede Blüte einzeln in den Eimer und kontrollierte dabei, ob sich Insekten in den hellgelben Blütenkelchen versteckten. Einen nach dem anderen liess sie in die grosse Glasflasche fallen, die sie vor dem Sammeln ausgewaschen hatten. Selbst der abgekochte Apfelessig stand bereit.
Gemma verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete die Alte bei ihrem Tun. Es war die perfekte Gelegenheit, sie zu fragen, sie um Hilfe bei ihrem Anliegen zu bitten. Dennoch zögerte sie. Wieso sollte ihre Lehrerin ihr helfen, aus der Reihe zu tanzen und sich den gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu widersetzen?
Um sich selbst Mut zu machen, räusperte sie sich. »Es gibt da etwas, das ich Euch schon lange fragen wollte, Aloisia.« Sie hielt inne, wusste, dass dies die letzte Gelegenheit war, ihr Vorhaben für sich zu behalten und niemanden mit ihrer Abartigkeit zu behelligen.
Aloisia sortierte weiter, ohne dass auch nur ein einziges Anzeichen verriet, dass sie sie gehört hatte.
»Mein Vater wünscht sich eine gute Partie für mich«, begann sie zögernd, bevor sie es sich noch anders überlegte. »Doch ich glaube, dass ich mir das nicht wünsche. Ich …«
»Vergiss deine Wünsche, törichtes Kind. Kein Mädchen, das noch ganz bei Trost ist, wünscht sich, nicht zu heiraten«, unterbrach die Alte sie in einem Tonfall, den sie ihr nicht zugetraut hatte. »Kinder, ein Heim, Ansehen – das ist es doch, was sie wollen.« Ihr eisiger Blick fiel auf Gemma, die bei dieser Zurechtweisung augenblicklich erstarrte. »Ich habe niemals geheiratet, weil ich keinen Vater hatte, der mir einen guten Mann suchen konnte. Ich habe mir mein Leben nicht ausgesucht. Die Unabhängigkeit bezahlte ich mit Erlebnissen, die ich niemandem wünsche.«
Gemma biss sich auf die Unterlippe, wandte den Blick ab, denn der Musterung ihrer Lehrerin hielt sie nicht stand. Sie wusste, was man sich über die komische Alte erzählte. Sie sei nicht ganz recht im Kopf, spreche mit Wesen, die niemand sonst sehen könne, und habe sich jedem Mann hingegeben, der sein Interesse bekundet habe. Den Gerüchten nach mussten es einige gewesen sein.
Einen Anlauf wollte sie noch wagen. »Ich weiss, dass es auch Opfer bringt. Aber das ist doch kein Grund, den Rest meines Lebens von meinen Eltern bestimmen zu lassen.«
Aloisia wirkte, als wollte sie erneut ansetzen, sie mit ihrer Wut und den Enttäuschungen ihres Lebens zu überrumpeln, doch ein tiefer Atemzug brachte Ruhe in die betagte Frau. »Es scheint ein Ausweg zu sein, meine Liebe, doch das ist es nicht. Eine junge Frau, besonders eine, die so hübsch ist wie du, wird Aufsehen erregen, wenn sie nicht heiratet. Männer werden dich verspotten, oder dir das nehmen, was du nicht geben willst.« Ohne den Blick von Gemma zu wenden, stand sie auf und kam auf sie zu, um ihr die faltige Hand auf die Wange zu legen. »Ich kenne die Gerüchte. Sie brechen mich noch immer, obwohl der letzte Übergriff schon Jahrzehnte her ist. Die Erinnerungen schmerzen nach wie vor.« Die Stimme kratzte, mehr noch als gewohnt. In ihr lagen die Qualen, die Aloisia erlitten hatte, all das, was sie hatte über sich ergehen lassen müssen. Wie Männer sie erst beschmutzt und dann beschimpft hatten. Wie die Frauen sie immer mehr gemieden hatten, bis sie sich ein Haus etwas abseits gesucht hatte.
Es lag nicht nur am Wissen um Heilkräuter, wieso andere Mädchen nicht zu Aloisia kamen, sondern vor allem an ihrer Vergangenheit. Im Dorf war sie nicht gern gesehen, sondern ein notwendiges Übel.
Ein trauriges, einsames Lächeln umspielte Aloisias Lippen. »Wir beide wissen, was das Beste für eine Frau ist.«
»Aber es ist ungerecht«, widersprach Gemma und fuhr sich über die Augen. Aloisias Vergangenheit nahm sie mit. So offen hatte sie noch nie über ihre Vergangenheit gesprochen. Wie konnte man einer Frau das nur antun wollen? »Männer dürfen sich nehmen, was sie wollen, und wir Frauen können nur darauf hoffen, dass wir eine gute Partie heiraten.« Um nicht völlig in Tränen aufzugehen, den Damm in ihr zusammenbrechen zu lassen, wandte Gemma den Blick ab.
»Es ist nicht gerecht. Und doch ist es so«, flüsterte Aloisia in einem Ton, der Gemma das Gefühl gab, verstanden zu werden. Vielleicht gab es doch jemanden in ihrer Nähe, der ob ihren Wünschen nicht nur den Kopf schüttelte.
Sie presste die Lippen aufeinander, damit sie nicht zitter-ten. Noch immer hatte sie die Arme vor der Brust verschränkt, doch es wirkte weder überheblich noch angriffs-lustig, sondern wie ein Kind, das sich an sich selbst klammerte, weil es keine Alternative gab.
Mit einer Engelsgeduld löste Aloisia die Hände von ihren Armen und sorgte dafür, dass sie wieder Luft bekam. »Pass auf dich auf, mein Kind. Träume nicht zu schön, denn das Leben ist hart.« Sie sprach so leise, dass Gemma Mühe hatte, ihre Worte zu verstehen. »Und gib sie dennoch nicht auf. In dir schlummert das Herz einer Frau, die die Vergessenen mit offenem Ohr und Herzen empfängt.« Sie machte eine kurze Pause, schluckte. »Verbirg es, aber vergiss es nicht.«
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