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Autoren-Adventskalender: Besinnliche Weihnacht

Auch in diesem Jahr habe ich euch zur Einstimmung auf Weihnachten eine kurze Adventsgeschichte geschrieben. Ich wollte mal wieder nach Island, deshalb habe ich mich Grýla, der Mutter der Jólasveinar, angenommen. Sie wird als eine hässliche Schreckgestalt dargestellt. Doch ist sie das wirklich? :-)

 

Übrigens gibt es die bisherigen Geschichten und die aktuellen, sobald die jeweiligen Türchen geöffnet sind, auch noch beim Autoren-Adventskalender. ;-) 

 

Besinnliche Weihnacht

"Meine Nase sieht heute ausnahmsweise so schick aus!", freut sich die alte Trollfrau, als sie ihren knubbelförmigen Zinken vor dem Spiegel hin und her dreht. Bestimmt lag es an der Ruhe der letzten Tage. Das lange, schwarze, quirlige Haar , das zuvorderst spriesst, scheint ihr nicht aufzufallen. Mit einem breiten Lächeln, das ihre schiefen, dreckigen Zähne zeigt, dreht sie sich um und schlurft aus dem engen Badezimmer.

Auf dem abgenutzten Sofa sitzt ein dürrer Troll, vielleicht halb so gross wie sie und kein Viertel so schwer. Er brummt, blättert eine Buchseite weiter und verfolgt mit den Augen die Zeilen. "Du bist eben eine Schönheit." Er klingt wenig überzeugt.

Die Trollfrau seufzt und stemmt die Hände in die Hüften. Sie sieht sich in der Stube um. Normalerweise tobte hier das Leben, doch jetzt lebt hier nichts, abgesehen von ein paar Kerzen. Ihren Mann kann Grýla nicht wirklich zu den Lebenden zählen, denn seit drei Jahren hat er sich nicht mehr vom Sofa erhoben.

"Schön ruhig", sagt er.

Grýla nickt und macht sich daran, eine Decke zusammenzulegen. Ihre Gedanken wandern zu ihren Kindern, die die Menschen um die Weihnachtszeit herum ärgern. Sie hat ihr Bestes versucht, sie davon abzuhalten. Doch mit den Jahren ... Sie seufzt abermals. Irgendwann hat sie aufgegeben.

Seit sie abgereist sind, um ihre diesjährigen Pläne in die Tat umzusetzen, ist es so ruhig. Beinahe ist sie versucht zu sagen, dass sie ihre Jungs vermisst. Ein wenig tut sie das auch. Doch sie geniesst auch die Ruhe und die Zweisamkeit mit ihrem Mann. Besinnliche Weihnachten sind das, so ohne ihre Rabauken. Seit Jahren ...

"Hey, Gr´yla, bring mir doch noch ein Steinskyr", reisst ihr Mann sie aus den Gedanken.

Eilig geht sie zum Kühlschrank, um ihm eine Schüssel mit gemahlenem Obsidian und Skyr zu bringen. Sie hat es vorbereitet, um ihm eine Freude zu machen. Er liebt Steinskyr.

Sie blinzelt verwirrt. Die Schüssel ist bis auf ein paar Steinklümpchen leer. Ein schlimmer Verdacht keimt in ihr auf. Es kann doch nicht sein, dass Weihnachten schon vorbei ist und ihre Kinder ...

In der Ferne knallt eine Tür zu. Jemand schreit. Grýla seufzt. Hurdaskellir, der Türschletzer, muss Gáttatheffur, dem Türschlitzschnüffler, die viel zu lange Nase eingeklemmt haben. Wildes Gezeter folgt. Der eine lacht, der andere wettert. Wenn die beiden zurück sind, erklärt das auch, warum der Skyr fehlt: Der Skyrschlecker Skyrgámur  hat es sich einverleibt.

Erst jetzt registriert sie die Aufregung im Stall. Schafe blöken, die Kühe stampfen umher. Da sind sie also, ihre Jungs.

Von einem Moment auf den anderen fühlt sich Grýla unglaublich müde. Das ganze Jahr über kümmert sie sich um ihre Jungenbande, und an Weihnachten hat sie  endlich Ruhe. Doch das Fest ist zu schnell vorbei. Und die Menschen? Die jammern, wenn ihre Jungs ein paar Tage da sind. Pah! Das ganze Jahr ist viel schlimmer!

Grýla packt eine lange Kelle, wirbelt herum und schlägt neben einer Kerze auf den Tisch. Sie trifft eine lange Hand, hinter der riesige, reuige Augen erscheinen.

"Du gehst jetzt sofort raus!", ruft sie Kertasníkir zu, der am liebsten die Talgkerzen klaut, um sie für seine Hautpflege zu nutzen. Zugegeben, seine Haut ist zarter als die aller Trolle, aber das muss nicht zwingend mit dem Talg zusammenhängen.

Kertasníkir zieht den Kopf ein und schlurft zur Tür.

Im Fenster daneben leuchten zwei grosse, helle Augen. Verstörend, aber okay. Immerhin bringt er sie nicht so zur Weissglut wie die anderen. Eines Tages ... ja, eines Tages würde sie sich an Weihnachten frei nehmen und die Menschen selbst erschrecken. Dann würden sie sich ihre Söhne zurückwünschen.

Sie hört das leise Zuschlagen der Kühlschranktür. Augenblicklich wirbelt sie herum, die Kelle hoch erhoben. Doch ehe sie dem Wurstdieb eins auf die Finger hauen kann, wird die Kelle schwer.

Ergeben seufzt sie. Der Kochlöffellecker. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. "Na gut, ihr habt gewonnen." Es sind ihre Kinder. Sie kann stolz auf sie sein. Immerhin sind sie in ganz Island für ihren Schabernack bekannt. Und sie sind Trolle. Trolle müssen Unruhe stiften - egal, wie nervig es für die Mutter ist.

Insgeheim glaubt sie sogar, dass es keine Mutter gibt, die so stolz auf ihre Kinder ist wie sie.

Sie nickt dem Fensterglotzer zu. "Hol deine Brüder. Es gibt ein Festessen."

Das Jubeln könnte nicht lauter sein. Diesmal kommt der Lärm aber nicht von draussen, sondern aus ihrem Herzen. Niemand sonst hört die Freude.

Ihre Jungs sind zurück. Sie werden sie zur Weissglut treiben, die schwarzen Haare weiss werden lassen und noch drei Falten mehr in ihr Gesicht zaubern.

Doch sie liebt sie wie niemanden sonst. An Weihnachten geht es nicht nur um Ruhe und besinnliche Zeiten, sondern darum, mit den Liebsten Zeit zu verbringen. Grýla fühlt sich in dieser Zeit oft überflüssig, wenn sie nicht für ihre Kinder da sein kann.

Ihr Mann grinst sie frech an. "Gib es zu, du hast sie vermisst."

Unwillig brummt sie. "Natürlich nicht." Es ist eine Lüge. Alle wissen das.

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