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Im magischen Schloss

Wieder einmal haben sich einige Autoren zusammengetan, um euch die Wartezeit bis Ostern mit eigenen Geschichten, Gedanken, Ausschnitten, Gedichten ... zu versüssen. :-D Weitere Geschichten (auch die der Vorjahre) findet ihr beim Autoren-Adventskalender.


Ich schritt den gepflasterten Weg zum Schloss hinauf. Irgendetwas daran war merkwürdig, doch ich konnte es nicht in Worte fassen. Je näher ich kam, desto mehr schienen die Konturen ineinander zu verschwimmen, doch wenn ich genauer hinblickte, formten sie sich neu.

Unter einem tiefen Atemzug hob sich meine Brust. Ein schlechtes Gefühl hatte ich nicht, doch ich wusste auch nicht so recht, was mich erwartete. Wenigstens meine Intuition war mir noch geblieben. Ich schritt aus und trat in das Schloss.

Ein kalter Windhauch spielte mit meinem Gesicht. Noch waren die Berge in der Ferne mit Schnee bedeckt, die Luft, die von dort kam, kühl und erstaunlich frisch, wenn der Frühling die Natur schon komplett im Griff hatte.

»Hey, du musst Syvaren sein«, unterbrach eine Frauenstimme meine Gedanken.

Ich wandte mich um. Vor mir stand eine junge Frau, vielleicht zehn Jahre älter als ich, deren rote Locken ihr lächelndes Gesicht umspielten. Sie trug merkwürdige Kleidung, einen kurzen Rock und darunter … Beinlinge. Ich starrte sie fassungslos an. Beinlinge! Bei einer Frau! Doch im Gegensatz zu jenen, die ich kannte, waren sie fein gewirkt und wirkten bequem.

Ich zwang mich, ihr in ihre grauen Augen zu blicken. »Ja, ich bin Syvaren.« Noch immer fühlte es sich merkwürdig an, meinen richtigen Namen zu sagen.

Sie kam näher und streckte die Hand aus. »Es freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Joana.«

Von ihr hatte ich die Einladung zu diesem Osterbrunch erhalten, wenigstens das wusste ich noch, auch wenn ich mich hier in eine ganz andere Welt versetzt fühlte.

»Komm doch, Tindra ist schon da.«

Auch wieder ein Name, der mir so gar nichts sagte. Ich folgte ihr eine Treppe hoch in einen dunklen Gang und von da weiter in einen kleinen Saal. In der Mitte stand ein gedeckter Tisch mit so vielen Leckereien, dass mir das Wasser im Mund zusammenfloss. An einem Platz sass eine blonde, kräftige Frau in meinem Alter, die mich mit einem breiten Lächeln musterte. An ihrer Hüfte baumelten zwei Schwerter. Erleichtert atmete ich aus. Wenigstens könnte ich mich mit ihr über Waffen unterhalten.

Joana schob mich weiter in den Raum hinein, dann setzte sie sich auf einen zweiten Stuhl. Auffordernd blickte sie mich an, doch sie wartete nicht auf mich, sondern griff nach einem Krug und schenkte sich eine leuchtend gelbe Flüssigkeit ins Glas.

Noch immer über den Überfluss staunend - gekochte Eier, Brötchen in allen Formen und Grössen, Früchte, fein geschnittenes Fleisch, Käse - liess ich mich auf einen Stuhl nieder.

»Es ist überwältigend, nicht wahr?«, fragte Tindra mit einem verständnisvollen Blick.

Ich nickte erleichtert. »Sie viel könnte nicht einmal mein ganzes Dorf essen«, stimmte ich ihr zu und setzte mich endlich. Ich reichte ihr die Hand. »Ich bin Syvaren.«

»Tindra«, stellte sie sich vor.

»Mädels, das gehört sich so. Zum Osterbrunch braucht es einfach alles.« Joana zwinkerte uns zu und griff demonstrativ nach einem Brötchen mit unbekannten Kernen, riss ein Stück ab und strich eine dicke Scheibe Butter darauf.

Tindra rollte mit den Augen. »So geht das schon die ganze Zeit. Ständig gibt sie mir das Gefühl, dass sie so viel mehr weiss als ich.«

Ich konnte ihr nachfühlen. Ich mochte auch keine Leute, die den anderen nicht zuhörten und sich vorschnell ein Urteil bildeten. »Wenigstens duftet es lecker.« Auch ich suchte mir ein Brötchen aus dem Stapel und biss vorsichtig hinein. Kross und luftig und einfach herrlich!

Tindra lachte leise, doch auch sie schloss ihre Augen, als sie kostete. Ich schmunzelte, sagte jedoch nichts. Es war merkwürdig, mit diesen beiden Frauen zu frühstücken, obwohl ich sie gar nicht kannte, und sie sich offensichtlich auch nicht.

Joana ergriff als Erste das Wort wieder. »Wie geht es Ciarann? Ich habe gehört, er ist zu einer Reise aufgebrochen.«

Ich fragte mich, woher sie das wusste, doch Tindra kam einer Antwort von mir zuvor: »Oh ja, erzähl ein wenig. Wie geht es euch beiden?«

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, als ich an den besten Mann denke, der mir je begegnet ist, und der nun an meiner Seite durch das Leben geht. »Es ist wunderschön mit ihm. Der Winter war hart, weil er auf Reisen war, doch inzwischen ist er zurückgekehrt. Doch was dazwischen passiert ist …« Die Erinnerung an das erste halbe Jahr, seitdem ich ihn nun kenne, schnürt mir noch immer die Kehle zu. »Manchmal erwache ich, weil ich Albträume habe. Es ist so schwer, die Vergangenheit loszulassen.«

Tindra nickte, plötzlich auch tief in Gedanken versunken. »Ich weiss ganz genau, was du meinst. Wir haben zu lange gebraucht, um zu erkennen …« Sie wandte den Blick ab, und ich fragte nicht weiter nach. Wenn sie etwas erzählen wollte, dann würde sie das tun.

Joana schenkte sich noch einmal Saft ein. »Die Vergangenheit kann so hinderlich sein, und manchmal ist sie das Tor zur Zukunft, die wir uns wünschen.« 

»Was hast du denn erlebt?«, fragte ich sie, bevor sie uns wieder mit Fragen löcherte.

Sie warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Ein wenig wünschte ich mir, Gedanken lesen zu können, um hinter ihre Geheimnisse zu kommen. Ich hatte das Gefühl, dass sie uns beide durchschaute, und das behagte mir so gar nicht. »Ich war mit Gion zusammen, doch vom einen auf den anderen Tag hat er den Kontakt abgebrochen. Um meine Grosstante wiederzufinden, mussten wir uns Jahre später zusammenraufen. Auch wenn es nicht einfach war, bin ich mir sicher, dass wir es nicht geschafft hätten, wenn wir uns irgendwo tief drin nicht doch noch vertraut hätten.« Sie sah mich erstaunlich offen an, als würde sie mich einladen, in ihren Erinnerungen zu schnüffeln.

»Das stimmt so nicht«, begann Tindra, doch ihr Blick ging in die Ferne. »Ich machte mich auf die Suche nach Sunyu, weil ich ihn vorher schon gekannt hatte. Hätte ich es nicht getan, hätte ich ihn nicht von seiner guten Seite kennengelernt. Das hätte mir sehr viel Leid erspart.«

Bei ihren Worten überkam mich eine unendliche Trauer. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen und sie getröstet, doch für den Verlust, den sie vermutlich erleiden musste, gab es keinen Trost.

Zu meiner Überraschung legte Joana ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie aufmunternd. »Wenn du ein Rezept gegen den Schmerz gefunden hast, dann bin ich dankbar dafür.« Sie seufzte. »Ich bin unsterblich. Er dagegen ... altert. Eines Tages wird er mir aus dem Leben gerissen und nimmt mein Herz mit. Das weiss ich jetzt schon.«

Ich griff mir ein Ei und schlug es auf die Tischplatte, um es zu schälen. »Es ist doch Ostern, das Fest des Lebens. Wieso trauern wir so? Wir sollten fröhlich sein.« Ich wusste nicht, was mich gerade ritt, doch es fühlte sich gut an, anderen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. »Letztens hat Ciarann von seiner ehemaligen Lehrerin erzählt, die er in seinen Druidenlehrjahren kennengelernt hat. Glaubt man ihm, war sie wunderschön. Ich habe ihn dann gefragt, ob sie viel schöner gewesen sei als ich. Er meinte knallhart: ›Ach, nicht allzu sehr.‹«

Tindra lachte leise hinein, während Joanas Lachen durch den ganzen Saal hallte.

»Ich wusste gar nicht, dass er so ein Charmeur ist. Aber Gion hat auch so wunderbar erheiternde Momente. Als ich ihm auf den Fuss stand, entschuldigte ich mich. Und er? Zuckte mit den Schultern und sagte: ›Kein Problem. Mir ist schon manche Ziege auf den Zeh getrampelt.‹ Dankeschön!« Joana warf gespielt entsetzt die Hände in die Luft.

Erheitert lachte ich auf, während ich mir ihren blitzenden Blick vorstellte - es fiel mir erstaunlich leicht. An Gions Stelle hätte ich damals nicht sein wollen.

Tindra lächelte, tief in Erinnerungen versunken. »Und Sunyu glaubte immer, dass ich mir in der Lehre einmal einen Kessel Wasser über den Kopf geleert habe, weil mir einfach zu heiss war. Ich schwitzte zwar wie eine Sau, doch das war nicht der einzige Grund. Ich wollte ihn ablenken. Er war immer besser und hat sich über mich lustig gemacht. Mit einer nassen, fast durchscheinenden Bluse dachte ich, dass ich wenigstens innerlich einmal triumphieren könnte.« Die Erinnerung brachte sie zum Strahlen. »Leider hat es nicht geklappt. Aber wenigstens wurde es zu einem speziellen Augenblick für ihn.«

Erstaunlich, wie sie bei den Gedanken an diesen Tag strahlte. Selbst Joana vergass das Leid, das ihr und ihrem Liebsten bevorstand.

Ich betrachtete die beiden für einen Moment. »Die Vergangenheit ist wichtig, weil sie uns zu jenen macht, die wir heute sind. All die schlimmen, schönen und lustigen Augenblicke, jede einzelne Begegnung, jede Erfahrung - sie alle prägen uns und geben uns die Werkzeuge für die Zukunft auf den Weg. Wir sollten stolz sein auf das Erlebte. Wir sind gut so, wie wir sind. Wir können wirklich stolz sein.«

Ihre Blicke begegnen meinem, und für einen wunderbaren Moment denke ich, dass wir drei Freundinnen fürs Leben geworden wären, hätte uns die Vergangenheit aneinander geschweisst.

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